Zeitgenössisches deutsches Theater nach Brecht am Beispiel von Autoren unterschiedlicher Generationen
Eine deutsche Trilogie
Im September feierte Roland Schimmelpfennigs „Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes“ beim Festival Primavera dei Teatri in Castrovillari (Calabria) seine Italienpremiere. Die Inszenierung, eine Produktion der Teatri Associati di Napoli und Interno5, gefördert vom Goethe-Institut, ist Teil des Projekts „Una trilogia tedesca“. Wir haben mit den Kuratoren, dem Regisseur Marcello Cotugno und den Schauspielerinnen Valentina Acca und Valentina Curatoli, über das Projekt und die aktuelle Situation der Theater in Süditalien gesprochen.
Von Johanna Wand
Warum widmen Sie dem zeitgenössischen deutschen Theater eine Trilogie?
Die Idee war, anhand unterschiedlicher Autoren und Generationen das Theater nach Brecht zu beleuchten: von Botho Strauß, der einer Strömung angehörte, die man heute als postdramatisch und als Theater des Gewissens bezeichnen könnte, über Roland Schimmelpfennig, dessen Theater einerseits von Brecht, Fassbinder und Kroetz, andererseits aber auch von zeitgenössischen englischen Autoren wie Pinter, Crimp und Kane beeinflusst wird, bis hin zu einem Theaterautor der jüngsten Generation. Die Entscheidung ist noch nicht gefallen, aber die Stücke von Ewald Palmetshofer und Thomas Köck gefallen uns sehr gut. Was uns darüber hinaus gereizt hat, ist, dass die deutschsprachige Dramaturgie mehr als die englischsprachige die pluristilistische und symbolische Matrix eines antinaturalistischen Theaters auffängt.
Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes von Roland Schimmelpfennig, der erste Teil der Trilogie, feierte kürzlich seine Italienpremiere, zehn Jahre nach der Weltpremiere in Toronto und großem internationalen Erfolg. Wie wichtig ist das zeitgenössische deutschsprachige Theater in Italien heute?
Deutschland ist es nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges gelungen, seine Rolle in Europa vom Henker zum Retter zu wandeln, wie vielleicht keinem anderen Land in der Geschichte. Natürlich standen viele Historiker Nachkriegsdeutschland kritisch gegenüber. Und Regisseur Syberberg (dessen filmisches Werk vergleichbar ist mit dem Theaterschaffen von Botho Strauß) reflektiert in "Hitler - ein Film aus Deutschland" über den Hitler in jedem Deutschen. Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass es den Deutschen gelungen ist, eine echte Metanoia, d.h. einen tiefgreifenden spirituellen Wandel, nicht zuletzt durch energische Selbstkritik, so durchzusetzen, dass das deutsche Modell auch in künstlerischer Hinsicht, sowohl in der zeitgenössischen Kunst, der Musik als auch im Theater wegweisend ist. Viele der innovativsten Regisseure und Ensembles (Thomas Ostermeier, The She Pop, Sigma, Renè Pollesch) und die interessantesten Autoren (Rainer Werner Fassbinder, Thomas Bernard, Elfriede Jelinek) stammen aus dem deutschsprachigen Raum.
Was ist das Besondere an Ihrer Produktion, oder besser gesagt, was war Ihr dramaturgischer Ansatz?
Dank unserer Produzenten TAN und Interno5 hatten wir das Glück, in drei Schritten vorgehen zu können, im Abstand von fünf bzw. sieben Monaten. In der ersten Phase beschäftigten wir uns mit sekundären Texten wie Lucia Engombes Kind Nr. 95 und Dokumentarfilmen wie Kenneth A. Carlsons The Heart of Nuba. Engombes Kind Nr. 95 war fundamental für unsere Vorstellung von der großen Abwesenden in Peggy Pickit: dem kleinen Mädchen Annie. Carlsons Dokumentation hat uns geholfen, die Arbeitsbedingungen der Ärzte in Afrika besser zu verstehen. Erst später begann die eigentliche Arbeit am Gerüst der Inszenierung.
Die postkoloniale bzw. neokoloniale Debatte befindet sich derzeit auf einem neuen Höhepunkt. Peggy Pickit greift dieses Thema auf. Welche Antwort findet das Stück auf die Frage nach der Verantwortung des Westens für Afrika?
Es gibt viele Antworten, und da wir sicherlich keine Historiker oder Politiker, sondern Künstler sind, können wir nur unseren persönlichen Standpunkt zum Ausdruck bringen. Alles ist miteinander verbunden, der Kolonialismus hat nichts anderes als einen langen Prozess der Eroberung und Zerstörung unseres Planeten in Gang gesetzt. Und Schimmelpfennigs Text drückt aus, dass wir alle verantwortlich sind, sowohl diejenigen, die fortgehen, um vor Ort zu helfen, als auch diejenigen, die hierbleiben, um in der Stadt eine glänzende Karriere zu machen. Schimmelpfennig scheint keine Lösungen anzubieten, aber er stellt den Westen vor sein Scheitern. Die Widersprüche sind inzwischen unüberwindbar geworden. Eine der Figuren im Text erzählt an einer bestimmten Stelle die Geschichte von Adisa, dem schönen afrikanischen Mädchen, das die Liebe eines westlichen Rucksacktouristen zurückweist, der um ihretwillen den afrikanischen Kontinent rettet. Mit dieser Geschichte scheint Schimmelpfennig uns zu sagen, dass der einzige Weg, der uns noch bleibt, die Selbstbestimmung dieser Bevölkerungen ist.
Nach der italienischen Premiere in Castrovillari Mitte September sollte Peggy Pickit im November in Neapel debütieren. Leider musste der Termin aufgrund der Pandemie verschoben werden: Was bedeutet die aktuelle Situation für die Theater, aber auch für die Kultur im Allgemeinen in Kampanien und Süditalien? Wie geht es Ihnen?
Es geht uns schlecht, wie allen Arbeiterinnen und Arbeitern im und am Theater. Auch diesbezüglich haben Deutschland und Frankreich wirksame staatliche Hilfsangebote entwickelt, denn in diesen Ländern gilt die Kultur als grundlegend für das Wachstum einer gesunden Gesellschaft, gleichauf mit dem Verkehrs- oder Bildungswesen. Warum erhält in Italien ein Bankangestellter oder der Angestellte eines öffentlichen Theaters weiterhin ein Gehalt und Schauspieler, Techniker, Regisseure, Musiker nur eine magere - einmalige - Hilfe, die gerade reicht, um ein paar Monate die nötigsten Ausgaben zu bezahlen, und längst nicht zum Leben?
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