Livio Senigalliesi über das Europa der Zukunft
Zuhören, Empathie und kulturelle Vielfalt
Der Fotograf und Journalist Livio Senigalliesi ist berühmt für seine Arbeiten in „Grenzgebieten“. Er dokumentierte mit seiner Kamera den Fall der Berliner Mauer ebenso wie den Golfkrieg, die ereignisreichen Tage vor dem Zerfall der Sowjetunion und den Konflikt in Jugoslawien. Hinzu kommen Kooperationen mit der UNHCR sowie, in den vergangenen zehn Jahren, Fotoreportagen zu Migrationsrouten von Griechenland über den Balkan bis nach Italien. Wir haben mit ihm gesprochen.
Von Davide Iannotta
Wie wichtig ist es, die Geschichten von Menschen zu erzählen, die am Rand unserer Gesellschaft leben? Was haben sie zu sagen? Was können wir durch sie verstehen? Das sind die Fragen, die Livio Senigalliesi – einer der bedeutendsten Fotoreporter Italiens der vergangenen 40 Jahre – mit seiner jüngsten fotografischen Arbeit aufwirft. Aktuell sind seine Bilder im Rahmen der Ausstellung Unseen – Non visti im Museo di Roma in Trastevere zu sehen. Die in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut organisierte Schau präsentiert Aufnahmen von vier international berühmten Fotografinnen und Fotografen. Jutta Benzenberg und Mila Tashaieva sind mit zwei Reportagen über Albanien und ländliche Gebiete im ehemaligen Ostdeutschland vertreten, Andrei Liankevich und Livio Senigalliesi mit zwei Arbeiten zu Polesien, einer entlegenen Region in Weißrussland, und Sulcis, einer Bergbauregion auf Sardinien.
Wir haben mit Livio Senigalliesi über seine Arbeit als – wie er sich selbst bezeichnet – „anthropologischer Fotograf“ gesprochen, über den Kontakt mit Menschen, die am Rand unserer Gesellschaft leben, über die Zukunft eines Europas, das die Bedürfnisse der Schwächsten oft nicht berücksichtigt, und die Bedeutung von Kultur und kulturellem Dialog in diesem historisch entscheidenden Moment.
Livio, für das Projekt Unseen – Non visti habt ihr Gebiete in Europa ausgewählt, die auf den ersten Blick kaum bis nichts „Europäisches“ an sich haben. Warum diese Entscheidung?
Dieses Projekt hat uns die Möglichkeit geboten, das von den Mainstream-Medien verbreitete Bild mit der Realität zu vergleichen. Europa ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern umfasst Millionen von Menschen und damit eine Vielfalt unterschiedlicher Kulturen und Traditionen. Wir haben Gemeinschaften aufgesucht, die am Rand unserer Gesellschaft leben und die Unterschiede, die dabei offenkundig wurden, sind zugleich die Stärke dieses anthropologischen Projekts. Wir sind nicht alle gleich und meiner bescheidenen Meinung nach muss Europa einen gemeinsamen Weg finden, diese Unterschiede zu respektieren. Ohne auf die „Schwächsten“ zu vergessen.
Junge Tänzerinnen in traditioneller Kleidung in Pinsk in der weißrussischen Region Polesien, 2018.
| Foto © Livio Senigalliesi
Wir kennen vor allem deine Reportagen aus Kriegsgebieten. Bei dieser Arbeit hat man hingegen den Eindruck, dass sich die porträtierten Menschen in ihrer Umgebung wohlfühlen. Wie lässt sich nun das stereotype Bild, das wir „privilegierte Europäer“ von Randgruppen haben, mit dem vereinbaren, was wir in der Ausstellung Unseen – Non visti sehen?
Der Mensch ist extrem anpassungsfähig. Dieser Eigenschaft verdankt er seinen Erfolg auf der Erde. Auf meinen Reisen nach Polesien und Sulcis habe ich meine Erfahrung und mein Einfühlungsvermögen genutzt, um den Menschen näherzukommen und eine Beziehung aufzubauen, die auf Empathie beruht. Nur so können Vorurteile abgebaut werden und es gelingt, dieses besondere Feeling entstehen zu lassen, das uns einzigartige Geschichten und Fotografien schenkt.
Die Gemeinschaft der Poleschuken lebt seit Jahrhunderten isoliert in einem weitläufigen Sumpfgebiet, im Einklang mit der Natur, die sie umgibt. Diese Welt zu entdecken war ein wunderschönes Erlebnis. Menschen die Hände zu schütteln, die seit 50 Jahren keinen Fremden gesehen haben, ihre alte Sprache zu hören und ihre traditionellen Gesänge aufzunehmen war wirklich eine einzigartige Erfahrung.
Auch das Gefühl beim Abstieg tief hinunter in den Bauch der Erde im Bergbaugebiet Sulcis lässt sich nur schwer in Worte fassen. Sulcis ist eine noch unberührte, nahezu unbekannte Region. Eine Umgebung für zähe, mutige Menschen. Sich in der Dunkelheit der Stollen zu bewegen, geführt von Menschen mit entsprechender Erfahrung, stärkt auch die Beziehung zueinander. Man teilt das Risiko, weil man einander vertraut. Nur so können auch tolle Geschichten entstehen.
Minenarbeiter beim Abstieg in das Bergwerk Carbosulcis der Ortschaft Nuraxi Figus in der sardischen Region Sulcis, 2018.
| Foto © Livio Senigalliesi
Wir stehen kurz vor den Europawahlen, aus denen populistische Gruppierungen – möglicherweise – spürbar gestärkt hervorgehen werden. Was denkst du? Werden die Minderheiten neue Vertreter finden, die sich für ihre Anliegen stark machen, oder werden sie von der aktiven Gestaltung der künftigen EU weiterhin ausgeschlossen bleiben?
Aufgabe eines Reporters ist es, die Fakten festzuhalten. Es ist mir nicht gestattet, politische Meinungen zu äußern und ich habe auch keine Kristallkugel, die mir verrät, was nach den Europawahlen sein wird. Es ist klar, dass die Bildung von „Blöcken“ für die Union nicht förderlich ist, und auch die Achtung von Unterschieden und die Berücksichtigung von Randgruppen werden dadurch nicht einfacher. Ich denke, dass die Menschen mehr reisen sollten, um einander kennenzulernen. Nur wenn wir eine Mentalität der Gemeinschaft und eine entsprechende Politik entwickeln, wird dieser Kontinent Erfolg haben. Solidarität, Austausch und gegenseitiger Respekt sind die Grundlagen für menschlichen Fortschritt.
Deine Rolle war stets die eines privilegierten Beobachters unserer Gesellschaft, der bis in ihre weniger bekannten Winkel vordringt. Der durchschnittliche Bürger kommt hingegen nur selten mit fremden Lebenswelten in Berührung. Wie kann deines Erachtens der durchschnittliche Europäer (sofern dieser überhaupt existiert) an Themen herangeführt werden, denen er im Alltag kaum begegnet? Wie schafft man ein breiteres europäisches Bewusstsein?
Meiner bescheidenen Meinung nach war die Europäische Gemeinschaft in den vergangenen Jahren schlicht ein Staatenverbund mit einer gemeinsamen Währung. Das mag für die ersten Jahre normal sein, und auch im Kampf gegen die Weltwirtschaftskrise, aber die große Herausforderung für die Zukunft wird sein, Partikular- und Nationalinteressen zu überwinden. Wie kann es innerhalb einer sogenannten „Gemeinschaft“ physische und mentale Mauern geben? Unsere wirtschaftliche und strategische Schwäche hindert uns, die großen Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Kultur und Fotografie können hier eine entscheidende Rolle spielen. Sie können unseren Horizont erweitern und zum Dialog anregen. Aus diesem Grund bin ich davon überzeugt, dass unsere Wanderausstellung auf großes Interesse stoßen und die Kulturinitiative des Goethe-Instituts ein voller Erfolg sein wird. (Anm. d. Red.: Eröffnet wurde die Ausstellung in Mailand. Aktuell ist sie noch bis 8. September 2019 in Rom zu sehen. Es folgen Stationen im weißrussischen Minsk im September und in der albanischen Hauptstadt Tirana im Oktober. Ihren Abschluss findet die Wanderausstellung im Jahr 2020 im deutschen Halle.)
An deinen Bildern fasziniert mich stets die Aufhebung der Distanz zwischen dem Reporter und den porträtierten Personen. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass die Absichten der beiden zwangsläufig divergieren. Was suchst du in den Gesichtern der Menschen, die du fotografierst und was denkst du suchen sie in der Begegnung mit der Kamera?
Vor 40 Jahren habe ich mich für diesen Beruf entschieden, einfach weil ich leidenschaftlich gerne reise und er mir die Gelegenheit bietet, andere Menschen kennenzulernen. Die Fotografie war nur ein Mittel zum Zweck. Auch bei diesem großartigen Projekt habe ich mich daher von meinem Instinkt leiten lassen, von Empathie, von der inneren Kraft der Menschen und der Neugier für den anderen. Die Aufnahmen selbst waren der allerletzte Schritt, das Ergebnis einer Beziehung, die sich in langen, eingehenden Gesprächen entwickelt hat. Sie sind das Ergebnis eines Austauschs – von Geschichten, Blicken oder auch eines Lächelns. Ich hätte nicht einfach einen kantigen Bergarbeiter aus Sulcis oder einen Bootsführer aus Polesien fotografieren können, ohne mich auch mit seinen persönlichen Erfahrungen und Emotionen auseinanderzusetzen.
Ich möchte daher die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle allen Menschen zu danken, die ihre Erinnerungen mit mir geteilt haben und mir mit meiner Kamera einen Einblick in ihr Leben und das Leben ihrer Familie gewährt haben. Einige der Bilder und Videoaufnahmen sind in dieser Form wirklich einzigartig und vermitteln uns einmalige Emotionen.
Zum Abschluss daher auch noch einmal ein herzliches Dankeschön an das Goethe-Institut für sein Vertrauen in unsere Erfahrung und Professionalität.
Kommentare
Kommentieren