Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Interview mit Bice Rinaldi
Kunst als moralische Instanz

Bice Rinaldi Interview
© Bice Rinaldi

Wo die Politik versagt, muss die Kunst der Gesellschaft ins Gewissen reden, so der Appell der Übersetzerin und Trägerin des ersten Deutsch-italienischen Übersetzerpreises.

Von Maria Carmen Morese & Johanna Wand


Welchen Raum nimmt Ihre Arbeit in der Isolation ein?

Ich übersetze Literatur und gehöre damit zu den wenigen Glücklichen, die ihre Arbeit mehr oder weniger regelmäßig fortsetzen konnten. Wir Übersetzer arbeiten von zu Hause aus, in der Einsamkeit, an jedem Tag des Jahres: von Angesicht zu Angesicht mit unseren Schriftstellern und ihren Werken. Die Übersetzung ist ihrem Wesen nach ein In-Sich-Kehren, in den Wochen der Quarantäne war sie es mehr denn je. Für mich wurde sie zu einem Resonanzraum in dieser Zeit der Stille und des Nachdenkens. Nachdenken, das durch den Prozess des Übersetzens verstärkt und katalysiert wurde, das umgekehrt aber auch die Übersetzung nährte, zumindest solange die Ereignisse die Konzentration nicht erschwerten (die dramatischen Folgen der Pandemie; der Ausschluss von Schriftstellern, Übersetzern, Illustratoren von allen Formen staatlicher Unterstützung; der Druck der Verlage, unsere Hungerlöhne weiter zu kürzen).

Wie alle schwierigen Momente eröffnet auch die gegenwärtige Krise neue Möglichkeiten. Was können wir aus dieser Situation lernen?

Wir erleben ein Ereignis von historischem Ausmaß. In gewisser Weise hat mich die Krise nicht überrascht. Ich hatte die Befürchtung, dass es früher oder später zu einer Katastrophe kommen würde. Dass wir in einer kranken Welt leben, die auf krankhaften Mechanismen beruht, war mir schon lange klar, und schon lange hatte ich damit gerechnet, dass die Natur zurückschlagen würde (die Frevel, die der Mensch seit Jahrzehnten an ihr begeht, haben die Ausbreitung des Virus begünstigt). Die Erde stellt uns ein Ultimatum. Sie ruft uns mit sehr lauter Stimme zu, wieder in großen Bahnen zu denken, die Welt aus der Vogelperspektive zu betrachten, auf dass die engstirnigen Ansichten über die Wirtschaft (und das falsche Wachstum) hinweggefegt werden. Sie fordert uns auf, wieder universell zu denken, unseren Sinn für Moral, der uns vor langer Zeit abhandengekommen ist, wiederzuentdecken (die Notlage hat die entwaffnende Mittelmäßigkeit der Politik bloßgelegt!) und alle Ausprägungen des Individualismus, sowohl von Menschen als auch von Staaten, zu überwinden. Eine Epidemie erinnert uns daran, dass alles miteinander verbunden ist, dass der elende Zustand der Welt Auswirkungen auf Völker und Gesellschaften hat und Ungleichheiten verschärft. Es liegt an uns, die Einladung anzunehmen, zu entscheiden, ob wir den Kurs umkehren und die Krise zu einem Wendepunkt machen wollen oder nicht.

Die neuen Umstände erschüttern und beunruhigen uns, aber sie ermutigen uns auch zu visionärem Denken. Von welchem Danach träumen Sie?

In dieser Zeit werden allzu oft die Worte "zurück zur Normalität" verwendet. Nein, ich wünsche mir, wir würden nicht zur Normalität zurückkehren. Nicht zur alten Normalität. Ich wünsche mir, dass wir unsere Perspektive radikal ändern.
Ich habe einen Traum für die Zukunft: den Traum von einer wirklich engagierten Kunst, die mit ihrer symbolischen und beschwörenden Kraft das Gewissen anspricht und die Leere füllt, die die Politik hinterlassen hat. Von einer Kunst, die zu einer moralischen Instanz wird und aus ihrer eigenen Welt heraus  den Blick auf die reale Welt richtet und sie tief auslotet. Ich träume von einer Kunst, die dem lauten und leeren Überfluss an Informationen, der uns täglich überwältigt, eine stille Dichte voller Wissen entgegenstellt. Und ich träume davon, dass vor allem die Kunst der Übersetzung den Menschen den Weg zu mehr Empathie, mehr Offenheit gegenüber anderen und zu mehr Solidarität zeigt.
Es ist schwer sich das vorzustellen, aber das ist die Welt, von der ich träume.
 

Biographie

Bice Rinaldi wurde 1967 in der Nähe von Benevent (Kampanien) geboren. In Neapel, ihrer Wahlheimat, studierte sie Fremdsprachen und Literatur an der Universität Federico II. und konzentrierte sich dabei vor allem auf die Theoretische Linguistik. Seit 2001 übersetzt sie deutschsprachige Literatur, für Kinder und Erwachsene. Im Auftrag der Verlage Beisler, Fazi und Neri Pozza übersetzte sie bisher Werke von Quint Buchholz, Zoë Jenny, Kristof Magnusson, Emine Sevgi Özdamar, Jutta Richter, Stephan Valentin und Markus Werner. Für die italienische Übersetzung von Markus Werners Roman „Zündels Abgang“ (Zündel se ne va, Neri Pozza Editore 2008), erhielt Bice Rinaldi 2010 den renommierten Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis. Im Jahr 2018 war sie gemeinsam mit der Schriftstellerin Jutta Richter Finalistin beim Premio Strega Ragazzi.

    Die Kommentarfunktion wurde geschlossen.
  • Kommentieren

Top