Der belgische Kontext
In Abwesenheit sicheren Bodens
Caroline Godart studierte Philosophie, feministische und queere Theorie, Film und Literatur in New York. Seit ihrer Rückkehr nach Belgien arbeitet sie als Dramaturgin, Herausgeberin, Autorin und Theaterkritikerin in Brüssel. Im Vorfeld der Brüsseler Premiere der „Konferenz der Abwesenden“ hat sie sich mit dem Thema Abwesenheit im belgischen Kontext beschäftigt.
Von Caroline Godart
Was bedeutet das, einer Nation anzugehören, die es gar nicht gibt? Oder einem Land, das es nur auf so flüchtige, zusammenfantasierte Weise gibt, dass man meinen möchte, es könnte schon bei der kleinsten Erschütterung aus der Geschichte verschwinden? Belgien entstand nämlich aus einer willkürlichen strategischen Entscheidung; nicht aus dem eigenem Willen, sondern nur als Riegel, der, falls nötig, den expansionistischen Bestrebungen Frankreichs vorgeschoben werden konnte. Wir befinden uns direkt nach der Niederlage Napoleons in Waterloo. Die durchwegs miteinander verwandten, europäischen Souveräne verwandeln sich in Händler und drapieren rund um Frankreich eiligst in kleine Päckchen verpackte Völker. Eine mythologische Geburt! Und prompt wird Belgien, wie Athena, aus einer Migräne Jupiters geboren, oder so in etwa.
Die Tatsache, dass wir keine gemeinsame Sprache sprechen, also keine gemeinsame Geschichte haben, die sich solide im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat, macht aus Belgien ein Land ohne eigene Identität, ohne leicht identifizierbares Ego, etwa eines, das man wie eine Standarte vor sich her schwingen könnte und das der Welt seine abstoßende Liebe zu sich und zu seinem Volk entgegenschreien könnte. Von alledem nichts, auf jeden Fall nicht als Land: Belgien ist sich selbst abwesend. Die mehr oder weniger starken, identitären Konstruktionen der großen Gemeinschaften (der flämisch-brüsslerischen/der frankofonen/ der wallisischen), aus denen es besteht, verstärken nur die Wirkung einer Flüchtigkeit desselben Landes, das sie gegen ihren Willen zusammen bilden. Abwesenheit ist also das konstituierende Element dieses Landes, was aber nicht heißt, dass dem Land etwas genommen wurde, sondern nur, dass Belgien nie diese Art heldenhafter, alter, ermüdender Erzählung besaß, mit der Frankreich, Großbritannien oder Russland belegt sind. Belgien war nicht „immerdar“, es hat kein „Schicksal“, keine Bestimmung außer derjenigen, so gut es geht weiterzubestehen, bevor es womöglich noch von den Unabhängigkeitsbestrebungen der einen oder anderen Gemeinschaft eingeholt wird.
Fruchtbarer Raum
Und genau diese Abwesenheit großer, heldenhafter Erzählung ist es für mich und für einige andere, die wir die unsicheren Beben einer Gemeinschaft, die nicht weiß, wer sie ist, der Gefangenschaft des sicheren Bodens und der Identität vorziehen, was aus diesem Land paradoxerweise einen Raum der Selbstentfaltung macht. In einem nicht sehr soliden Land, das stets vom Verschwinden bedroht ist, ist Platz für Menschen, die die Früchte des Zufalls und der Veränderung genießen können.Diese Abwesenheit zu sich selbst aber ist auch, im besten Fall, eine Quelle für Frustrationen, und im schlechtesten Fall eine Quelle für schreiende Ungerechtigkeit. Regierungen brauchen Monate, ja Jahre, um sich zu formieren; man radebrecht so schlecht die Sprache des anderen, dass man sich schließlich auf Englisch unterhält; man meint, den größeren, mächtigeren Nachbarländern, denen man sich manchmal nur mit Vorbehalt nähert, unterlegen zu sein; und vor allem erinnert sich keiner mehr an irgendetwas. Gedächtnisverlust ist eine stark verbreitete Krankheit bei uns, die durch den vielfältigen Charakter der Nicht-Nation noch verschärft wird. Nehmen wir den ebenso schrecklichen wie symbolhaften Fall der Kolonisierung des Kongo: Wenig oder schlecht unterrichtet in den frankophonen und flämischen Schulen, werfen Frankofone und Flamen einander gegenseitig den Ball zu, und die Abwesenheit nationalen Gewissens erleichtert dabei den oberflächlichen Zugang zur kolonialen Unterdrückung, ohne für diese Verantwortung zu übernehmen oder Reparationen zu leisten.
Der Vorschlag von Rimini Protokoll also, über die Abwesenden sprechen zu lassen, trifft uns in unserem Herzen belgischer Identität, die selbst abwesend ist und eine Gemeinschaft, der es nie wirklich gelingt, sich sich selbst vorzustellen, die aber einen fruchtbaren Raum für Wettstreit bietet, und, leider, eben auch für Mittelmäßigkeit.
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