Gespräch mit Helgard Haug und Francisco Frazão
Von der Praxis zur Performanz oder: Vom Theater zum eigenen Leben und wieder zurück
Nach bereits einigen Aufführungen in Portugal kommt die deutsche Theatergruppe Rimini Protokoll mit Konferenz der Abwesenden nun erneut nach Lissabon. Das experimentelle, unkonventionelle Stück wird vom 24. bis 26. Februar im Teatro do Bairro Alto (TBA) aufgeführt und passt zur Gruppe genau wie zum Programm des Theaters. Um die Arbeit beider besser verstehen zu können, sprach ich mit Helgard Haug, einer der Gründerinnen von Rimini Protokoll und Francisco Frazão, dem künstlerischen Leiter des TBA.
Von Raquel Pedro
Rimini Protokoll (RP) sind eine im Jahr 2000 von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel gegründete deutsche Theatergruppe. Ihr zeitgenössischer, avantgardistischer Ansatz lässt sich in den Bereich des „dokumentarischen Theaters“ einordnen. Sie traten zunächst in unabhängigen Theatern auf, spielten auf städtischen Bühnen, diversen anderen Räumen sowie Festivals und wurden bereits mehrfach ausgezeichnet. Es ist interessant, wie alltägliche Themen auf das Theater übergehen und dadurch politisch werden, und welche Veränderungen sich aus der Erfahrung als Zuschauer*in ergeben. Helgard sagt über den Ansatz von Rimini Protokoll: „Wir nehmen uns oft politischer Themen an, aber anstatt unsere Position aus nur einer einzigen Perspektive zu zeigen, versuchen wir unterschiedliche Blickwinkel anzubieten. Es geht weniger um eine Lösung als um das Begreifen einer Komplexität oder eines Dilemmas. Ich glaube, im Theater haben wir die einmalige Möglichkeit, uns an die Stelle unterschiedlicher Personen zu begeben, um unterschiedliche Standpunkte zu verstehen.“ Francisco verfolgt die Arbeit der Gruppe, seit sie sich 2007 im Culturgest begegneten und bekräftigt: „Es gibt in der Arbeit des Rimini Protokoll diesen brechtschen Ansatz, dass der Interpret eine Art Bericht von sich selbst macht. Als spielten sie einen Text, eine Geschichte, die fast immer persönlich ist, autobiografisch, weil sie mit konkreten Personen arbeiten, die normalerweise keine Schauspieler sind.“
Die Klimakrise: Mehr als ein Thema
Die Konferenz der Abwesenden beschäftigt sich mit der Sorge um den Ausstoß von Treibhausgasen in die Atmosphäre: „Der wichtigste Grund dafür, dieses Stück zu machen war, uns selbst über unseren gigantischen CO2-Fußabdruck bewusst zu werden, den wir bei der Produktion und vor allem auf Reisen mit unseren Aufführungen hinterlassen.“ Es entstand eine neue Idee in der Gruppe: „Mit unseren Projekten wollen wir Neues herausfinden. Das Konzept eines Stücks über Abwesenheit entwickelten wir noch bevor das Coronavirus viele neue unkonventionelle Ideen dazu hervorbrachte, wie man damit umgehen kann, dass man nicht mehr auf die gewohnte Weise reisen kann“, erklärt Helgard. Auf der anderen Seite stehen die Aufführungsstätten. Das Teatro do Bairro Alto versucht „grünes Theater“ zu sein. „Es genügt nicht, die Klimafrage als Stück auf die Bühne zu bringen. Wahrscheinlich wichtiger ist, sich damit beim Entstehen des Stücks und bei der Produktion selbst zu beschäftigen. Das geschieht auf vielfältige Weise, hat mit dem Reisen zu tun, mit den Materialien des Bühnenbilds…“, sagt Francisco. Dessen ungeachtet betont er, wie wichtig es angesichts „Portugals peripherer Lage in Europa und in der Welt, nicht nur geografisch, sondern auch wirtschaftlich“ sei, ausländische Stücke ins Land zu holen.In dem Stück geht es um Herausforderungen von Abwesenheit und ihrer Überwindung. Helgard spricht über „die stillschweigende Übereinkunft darüber, dass wir hier dafür verantwortlich sind und es ermöglichen, dass Personen, die nicht anwesend sind, von uns Anwesenden dargestellt werden“, und Francisco ergänzt: „Für mich sind die Darstellenden einerseits sie selbst, zugleich aber auch Spezialist*innen der Abwesenheit, also der Vorstellung, Figuren zu sein, die etwas darüber wissen: Was bedeutet es, nicht anwesend zu sein? Was heißt Unsichtbarkeit? Was heißt nicht da sein zu können?“ So gesehen ist es „ein Spiel mit dem eigentlichen Spiel des Theaters, auch des konventionellen, nämlich, dass jemand sich für eine andere Person ausgibt; der Schauspieler gibt den Hamlet und Hamlet ist gar nicht körperlich anwesend, sondern nur der Schauspieler, und wir sehen gewissermaßen die beiden“.
Ein neues Stück im Dialog mit dem Ort
Auch unsere gewohnte Art, Stücke aus dem Ausland zu sehen, wird verändert. Der Dialog mit dem Ort nimmt bei der Vorbereitung jeder Aufführung eine zentrale Stellung ein, etwa die Frage der Sprache: „Wir müssen eine komplett neue Fassung in der anderen Sprache und mit dem örtlichen Team entwickeln. Ich finde es schade, dass man im Theater normalerweise nur Übertitel sieht. Unser Stück kann für alle Sprachen angepasst werden, weil es vor allem das örtliche Publikum ist, das es inszeniert“, betont Helgard. Und Francisco sagt: „Es ist kein Stück ‚von der Stange‘. Es nimmt sich der Frage nach der Übersetzung an. Eine Übersetzung bedeutet, einen Text zu schaffen, den es in der betreffenden anderen Sprache nicht gab, und wir schaffen hier eine Aufführung, die es in diesem kulturellen Kontext noch nicht gab, und die daher etwas Neues ist.“Für Helgard schließlich „ist es kein Stück, das wir einmal durchspielen und dann wissen, es ist gut und wir können es immer wieder so spielen. Es hängt sehr von den Personen ab, die da sind“. Für Francisco ist „die Mechanik des Stücks selbst die große Herausforderung, Leute zu haben, die nicht nur bereit sind, zuzuschauen, sondern unter den richtigen Bedingungen auch potenziell mitzuwirken“. So darf man gespannt sein auf die Aufführung in Lissabon und darauf, aus unterschiedlichen Blickwinkeln eines der wichtigsten Themen der Gegenwart zu betrachten, den Klimanotstand im Brennglas der von Rimini Protokoll aufbereiteten Erfahrung.
Kommentare
Kommentieren