„Exploring Visual Cultures“ – ein transnationales Projekt
Dekolonisierung der Kunstpädagogik?
Die Lehrer*innen-Ausbildung in der Kunstvermittlung an deutschen Hochschulen steckt in einem Dilemma: Der Unterricht ist selten divers und kaum von außereuropäischen Perspektiven geprägt. Mit dem Ziel, das eurozentrisch geprägte Kunstverständnis zu dekonstruieren und die Entwicklung zeitgemäßer Unterrichtsmaterialien zu fördern, zeigt das Projekt „Exploring Visual Cultures“ wie der Unterricht von morgen aussehen kann. Ein Interview mit dem Projektleiter Prof. Dr. Ernst Wagner, Akademie der Bildenden Künste München.
Von Natalie Göltenboth
„Exploring Visual Cultures“ hat sich zum Ziel gesetzt, in der Kunstvermittlung neue Impulse zu setzen und auch außereuropäische Perspektiven zu integrieren. Woran hat sich die Ausbildung in der Kunstpädagogik an deutschen Hochschulen bislang orientiert?
Ich kann da nur über die Hochschule berichten, an der ich selbst tätig bin, allerdings habe ich den Eindruck, dass wir nicht so ganz untypisch sind. Bei uns liegt der Fokus ganz klar auf der individuellen künstlerischen Entwicklung der Studierenden, die von Fachdidaktik und Kunstgeschichte flankiert wird.
Ein allgemeines Dilemma, das wir bei der Lehrer*innen-Ausbildung an allen deutschen Hochschulen haben: Praktisch alle unsere Studierenden sind deutsche Staatsbürger*innen, da die Ausbildung auf das verbeamtete Lehramt an deutschen Schulen zielt. Diversität findet sich da nicht und auch zu wenig in den Inhalten. Letzteres hat insbesondere damit zu tun, dass es zu wenig Modelle gibt, wie zeitgemäße Kunstpädagogik aussehen könnte. Doch zum Glück haben wir sehr aufmerksame Studierende, die das zunehmend einfordern und ausprobieren.
Es ändert sich aber auch schon etwas: Derzeit läuft eine Kooperation von Studierenden der Münchner Kunstakademie mit Studierenden aus dem Iran, Ghana, Südafrika, Japan und Hongkong, die gemeinsam an künstlerischen Projekten arbeiten. Die Ergebnisse zeigen wir im Juni 2021 in drei Münchner Galerien. Alle Teilnehmer*innen führen zudem ein Forschungstagebuch, in dem sie ihre Erfahrungen reflektieren. Daraus entsteht dann nicht nur ein Katalog, sondern das dient auch als Basis für die fachdidaktische Diskussion, aus der heraus neue Lehrmaterialien kreiert werden. Diese Zusammenarbeit mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen weist meines Erachtens in die Zukunft.
Wie beurteilen Sie die Situation des Kunstunterrichts an den deutschen Schulen?
Durch verschiedene Sach- und Rechtfertigungszwänge vor Ort und mit einem enormen Druck von allen Seiten sind Lehrer*innen wahre Genies im Handeln ihrer Situation. Fast niemand von ihnen hat jedoch die aktuellen Diskurse an den Hochschulen mitbekommen, sie müssen sich also selbst darum bemühen, um Anschluss zu finden. Auch die zur Verfügung stehenden Schulbücher sind, was die Dekolonialisierung der Kunstvermittlung betrifft, zumindest „von gestern“. Und dann greift man eben eher auf das Vertraute zurück, das meist sachlich auch nicht falsch – aber mittlerweile doch insofern problematisch geworden ist, als außereuropäische Positionen dabei meist nicht vertreten sind.
Aus welchen Erfahrungen und Ideen heraus ist „Exploring Visual Cultures“ entstanden und wie würden Sie das Ziel des Projekts formulieren?
Ich muss es furchtbar holzschnittartig darstellen: Der bestehende Kunstunterricht ist – sicher unbeabsichtigt – exkludierend, und das durch seine Orientierungen: Zunächst an einem ausschließlich westlichen Kanon, der von französischen Kathedralen über Leonardo, Raffael, Michelangelo bis Versailles, Goya und vielleicht noch zwei US-Künstler*innen wie Pollock und Warhol reicht. Aber auch die Narrative sind vor allem dem bildungsbürgerlichen Milieu verpflichtet, in dem die Entwicklung der Kunst, ganz im Sinne evolutionistischer Ideen, als sich fortschreitend entfaltender „Baum“ verstanden wird, der sich dem Schaffen meist männlicher „Genies“ verdankt. Andere Perspektiven, wie etwa aus der muslimischen Welt, sind ebenso ausgeschlossen wie andere Kunstbegriffe. Wir müssen einfach mal verstehen, dass unsere Konzepte aus „der Provinz Europa“ stammen und die Welt vielfältiger ist – Stichwort „Unlearning“ unserer bisherigen Deutungshoheit über Kunst.
Doch wie geht das in einem zeitgemäßen Unterricht?
Auf alle Fälle ist klar, dass wir uns Eurozentrismus nicht mehr leisten können oder das Fach verliert vollständig seine Relevanz. Wir müssen also – und jetzt bleibe ich bei der gerade genutzten Reihenfolge – den Kanon de-kolonialisieren, die Narrative für die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen in verschiedenen Milieus anschlussfähig machen, mehrperspektivisch argumentieren, die Relativität unseres Kunstbegriffs zum Gegenstand machen und alternative Praxen erproben.
Wir müssen uns aber auch fragen, was etwa „critical whiteness“, also die kritische Betrachtung der Privilegien als weißer Mensch in der Welt zu agieren, in unserem Kontext bedeuten kann. Was das koloniale Erbe für die Kunstwerke, mit denen wir uns beschäftigen, etwa bei „Klassikern“ wie Gauguin, Picasso, Man Ray bedeutet – wie wir also hegemoniale Einschreibungen in das eurozentrisch geprägte Kunstverständnis dekonstruieren können und eine gemeinsame und geteilte Wissensproduktion gestalten wollen.
So viele Fragen und Herausforderungen an einen zeitgemäßen Kunstunterricht! Unser Ziel ist es, Hilfestellungen für die Community der Kunstlehrenden zu geben, nicht nur bei uns in Deutschland.
Mit welchen internationalen Partnern kooperieren Sie?
Durch eine staatliche Finanzierung können wir sehr eng mit Kolleg*innen in Ghana, mit Partnern in Nairobi, Südafrika und Kamerun zusammenarbeiten. Ich konnte durch meine Tätigkeit am UNESCO-Lehrstuhl für Kulturelle Bildung in Erlangen auch Netzwerke im asiatischen Raum mit einbringen. Darüber hinaus gibt es eine wachsende Zusammenarbeit mit Akteur*innen in Deutschland: ethnologische Museen, Universitäten, documenta fifteen. Wie bereits gesagt, das Projekt steht am Anfang, aber es versteht sich insbesondere als Plattform für die Vernetzung von Akteur*innen, die im selben Bereich arbeiten.
Welche Formate der Zusammenarbeit gibt es?
Das Basisformat ist ganz einfach: Wir bauen eine Datenbank von „visuellen Objekten“ auf, die für den jeweiligen Bildungskontext relevant sind. Ein Beispiel wäre das Portrait Ludwigs XIV., da an ihm wichtige Themen wie absolutistische Herrschaftsformen, ein bestimmtes Naturverständnis, aber auch Genderaspekte erarbeitet werden können. Das haben wir im deutschen Team so entschieden. Die Teams in Ghana, Südafrika und den anderen Ländern entscheiden sich natürlich für andere Objekte, wie etwa für Nelson Mandelas Haus in Soweto. Der jeweilige landesspezifische Kontext ist entscheidend für die Auswahl.
Das transnationale Expert-Panel, das das Vorhaben inhaltlich steuert, arbeitet darüber hinaus gerade an einer Vergleichsstudie zum Kunstbegriff und zu Konzeptionen der Kunstvermittlung, an der Partner*innen aus Japan, Korea, Singapur, Südafrika und Ghana teilnehmen.
Wie sieht die gemeinsame Entwicklung von Unterrichtsmaterialien in diesem Projekt aus? Wie darf man sich das konkret vorstellen?
Im Sommer 2022 wollen wir eine Handreichung für Kunstlehrer*innen fertig haben. Dafür konnten wir einen Arbeitskreis von Lehrkräften gewinnen, die daran mitarbeiten. Es helfen auch die internationalen Partner aus Ghana, Kamerun und Japan mit. Es gibt beispielsweise einen wunderbaren Unterrichtsvorschlag, bei dem Schüler*innen, inspiriert von Gauguin, künstlerische Selbstermächtigungsstrategien in Videoclips spielerisch erproben. Andere Konzepte wurden zu Themen wie Haarstile, Stoffdesign oder zu Exotisierungsstrategien am Beispiel des Meraner Saltners oder der Nkisi-Figuren, also den früher als „Nagelfetische“ bezeichneten Objekte aus dem Kongo, entwickelt. Diese Ideen sollen exemplarisch aufzeigen, was im Kunstunterricht alles möglich ist und zu eigenem Ausprobieren ermuntern.
Das Interview führte Dr. Natalie Göltenboth.
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