Alte neue Heimat
Judentum in Deutschland
Nach dem Zweiten Weltkrieg dachte man, dass jüdisches Leben in Deutschland wohl nicht mehr möglich sein werde. Heute gibt es hierzulande Rabinerinnen, jüdische LGBTQI-Gruppen, jüdische Politiker*innen – und weiterhin Probleme mit Antisemitismus.
Von Ralf Balke
Nichts ist beständiger als ein Provisorium. Die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft im Deutschland der Nachkriegszeit scheint diese alte Weisheit zu bestätigen: Denn nach der Schoah war es geradezu unvorstellbar, dass Juden und Jüdinnen im Land der Täter*innen erneut eine Heimat finden könnten. Deshalb betrachtete man nach 1945 jede Form einer jüdischen Existenz auf deutschem Boden als temporäre Angelegenheit und sprach von „Liquidationsgemeinden“, deren Aufgabe es war, Mitgliedern bei der Übersiedlung in ein anderes Land zu unterstützen. Über 75 Jahre später sieht das schon ganz anders aus: Juden und Jüdinnen sitzen hierzulande längst nicht mehr auf „gepackten Koffern“. Aktuell gibt es 105 jüdische Gemeinden mit knapp 98.000 Mitgliedern, die der Zentralrat der Juden in Deutschland als Interessenvertretung unter seinem Dach vereint. Des weiteren dürfte es noch einmal so viele Jüdinnen und Juden geben, die keiner Gemeinde angehören.
Mit der Einheitsgemeinde hat sich ein Konzept bewährt, dass es in dieser Form wohl nur im deutschsprachigen Raum gibt. Darin finden alle Strömungen des Judentums gleichberechtigt ihren Platz, das religiöse Leben folgt aber weitestgehend orthodoxen Vorgaben. Dafür gibt es historische Gründe: Bis Ende der 1980er-Jahre lebten in der alten Bundesrepublik gerade einmal 28.000 Jüdinnen und Juden. Die allermeisten waren sogenannte Displaced Persons (DPs), also nach 1945 aus Polen, Rumänien oder Ungarn geflohene Juden und Jüdinnen sowie ihre Nachkommen. Mehrheitlich standen sie den orthodoxen Traditionen einfach näher. In der DDR sah die Situation völlig anders aus. Von den wenigen Jüdinnen und Juden, die zumeist aus ideologischen Gründen dorthin gezogen waren, flohen aufgrund des repressiven Klimas die meisten in den Westen, so dass die Gemeinden dort 1989 gerade einmal 1.500 Mitglieder zählten.
Eine neue Vielfalt
Nach der Wende setzte die Zuwanderung von Juden und Jüdinnen aus der kollabierenden Sowjetunion ein. Rund 220.000 Personen kamen bis 2005 als Kontingentflüchtlinge und sorgten nicht nur für eine Renaissance des jüdischen Lebens, sondern brachten ebenfalls eine bis dato unbekannte Vielfalt hervor. So konnten sich parallel zum orthodoxen Judentum weitere Strömungen etablieren, die sich selbst als liberal, konservativ oder progressiv bezeichnen. Mit dem 1999 gegründeten Abraham Geiger Kolleg in Potsdam entstand zudem das erste Rabbinerseminar der Nachkriegszeit, wo man im Sinne einer liberalen Ausrichtung seit 2006 Rabbiner zu ordinieren begann, darunter 2010 auch die erste Rabbinerin. 2009 folgte dann das orthodoxe Hildesheimer Rabbinerseminar in Berlin, so dass anders als früher jetzt vielerorts Gemeinden von Rabbiner*innen betreut werden, die in Deutschland ihre Ausbildung absolviert haben.
LGBTQI-Gruppen wollen queeres Leben in den Gemeinden sichtbarer machen: Fahnen mit Davidsstern beim Kippa-Tag in Freiburg.
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Vor diesem Hintergrund hat sich das jüdische Leben in den vergangenen drei Jahrzehnten deutlich ausdifferenziert. Nicht nur, dass die Gemeinden als solche „russischer“ geworden sind – die ehemaligen Zuwander*innen aus der Ex-Sowjetunion bilden schon rein quantitativ die absolute Mehrheit. Mittlerweile ist zudem eine neue Generation herangewachsen, die die Sowjetunion allenfalls aus der Kindheit kennt oder bereits in Deutschland geboren wurde. Vor allem junge Juden und Jüdinnen wollen nicht länger auf die Themen Schoah, Antisemitismus oder Nahostkonflikt reduziert werden, sondern möchten mit nationalen oder religiösen Stereotypen brechen. Beispiele dafür sind unter anderem Keshet, eine LGBTQI-Gruppe, die queeres Leben in den Gemeinden sichtbarer machen will, oder die Jüdische Studierendenunion (JSUD). Auch in der Parteienlandschaft zeigen Jüdinnen und Juden Flagge: So haben sich etwa in der CDU und der SPD Gruppen jüdischer Parteimitglieder gebildet.
„Meet A Jew“ und jüdisch-muslimischer Dialog
Der Zentralrat der Juden hat seinerseits ebenfalls zahlreiche Initiativen angestoßen, um jüdisches Leben sichtbarer zu machen. Angefangen von „Meet A Jew“, einem Begegnungsprogramm, bei dem junge Juden und Jüdinnen in Schulen oder Sportvereinen über das Judentum und jüdischen Alltag sprechen, bis hin zu „Schalom Aleikum“, einem jüdisch-muslimischen Dialogprojekt, bei dem Menschen aus allen Alters- und Berufsgruppen zusammenkommen, um sich gegenseitig besser kennenzulernen und Vorteile abzubauen – denn Ressentiments gegen Juden und Jüdinnen bis hin zu Antisemitismus stellen weiterhin eine große Gefahr dar.
Selbst diese Bedrohung aber hat sich über die Jahre in mancher Hinsicht gewandelt. Zu der altbekannten Hetze gegen Jüdinnen und Juden aus dem rechten politischen Spektrum gesellten sich zuletzt neue Ausdrucksformen des Hasses in linksradikalen Milieus hinzu sowie zunehmend ein Antisemitismus, der seine Wurzeln im politischen Islam hat. So registrierte die Polizei für 2020 mit 2.275 judenfeindlichen Straftaten den bislang höchsten Wert seit Einführung des Erfassungssystems „Politisch Motivierte Kriminalität“ (PMK) im Jahr 2001. Synagogen und andere jüdische Einrichtungen stehen rund um die Uhr unter Polizeischutz – auch das ist ein Teil der Normalität von jüdischem Leben in Deutschland.
Blumen vor der Synagoge in Halle zum Gedenken an die Opfer des antisemitischen Anschlags 2019.
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