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Geboren nach ’89
Bari

Von Matteo Tacconi

Die Mauer der Adria

Der Handel im Hafen und die blauen Boote der Fischer, der frische Fisch am Pier San Nicola, die Frauen der Altstadt, die die typischen Orecchiette kneten, und der Kult des Heiligen Nikolaus, der sowohl den Katholiken als auch Orthodoxen nahe ist: Vor der Basilika, die nach dem Heiligen benannt ist, herrscht ein dezentes Treiben russischer Pilger. Es braucht nicht viel, um zu verstehen, dass in Bari, dieser adriatisch-mediterranen Stadt am Schnittpunkt von West und Ost, die Berliner Mauer und das Jahr 1989 in den Köpfen nicht gerade präsent ist und sich deren Auswirkungen hier nicht wie in Dresden oder Bonn spüren lassen.

Bari unterscheidet sich auch von Triest, einer Grenzstadt und Stadt des Kalten Krieges. Hier ist die Grenze das Meer: ein Trennwand aus Wasser, die Jugoslawien und Albanien in sicherem Abstand hielt. 1991 verkürzte sich dieser Abstand jedoch von jetzt auf gleich. Kurz vor dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur von Tirana, der paranoidesten im Osten, überquerten Tausende von Albanern das Meer, um nach Italien zu gelangen. Für sie war es der westliche Traum, der Ort, an dem es diese Freiheit gab, die ihnen jahrzehntelang von ihrer stiefmütterlichen Heimat verweigert wurde.

Viele Menschen gingen in Bari an Land. Im August jenes Jahres kamen an nur einem Tag und von einem einzigen Schiff, der Vlora, zwanzigtausend an. Das Bild der Schiffsbrücke mit der schier unglaublichen Menge an Menschen steht für die albanische Migration nach Italien. Die Jugendlichen von Bari kennen diese Geschichte und wissen, was danach geschah. „Die Albaner konnten sich in Bari integrieren. Einige gehen einer einfachen Arbeit nach, andere haben qualifizierte Jobs. Sie sprechen den Dialekt hier fast besser als wir“, so Luca Carofiglio, Journalist, Jahrgang 1997.

Die positive Integration der Albaner hat einen Teil der vielen Stereotypen beseitigt, die man in Italien gegenüber dem „Land der Adler“ hatte, einem ehemaligen Gefängnisstaat, der während des Kalten Krieges von der Welt isoliert war. „Ich war noch nie dort, aber ich glaube Albanien ist ein interessantes Land, das wächst, in dem die Jugend etwas tun möchte“, sagt Ilaria Cramarossa, angehende Ingenieurin, Jahrgang 1998. „Ich weiß, dass Albanien eine schöne Küste hat, die immer mehr Touristen anzieht. Ich habe einen albanischen Freund und ich habe ihn gebeten, mich in den Ferien einmal mit in sein Land zu nehmen“, berichtet Antonio Maria Dentamaro, ebenfalls angehender Ingenieur, ein Jahr älter als Ilaria. Wir treffen sie am Strand Pane e Pomodoro, an der Südküste.
 Luca Carofiglio – Ilaria Cramarossa – Antonio Maria Dentamaro Luca Carofiglio – Ilaria Cramarossa – Antonio Maria Dentamaro | © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia

Die Krisen unserer Zeit

Seien wir ehrlich: Bevor wir nach Bari kamen, dachten wir, dass die albanischen Abwanderungen von 1991 den Mittelpunkt unserer Geschichte bilden wird. Das lässt sich aber nicht ganz so einfach sagen. Auch hier ist das Echo der Geschichte so langsam verblasst. Dieses Ereignis dient nicht als Wendepunkt, auch nicht für diejenigen, die nach 1989 geboren wurden. Wenn überhaupt, dann lässt sich die Wirtschaftskrise als ein Wendepunkt bezeichnen. „Zunächst hat die Krise im Jahr 2008 ihre Spuren hinterlassen, dann diejenige von 2011 mit den Schulden in Europa. Viele meiner Altersgenossen sind entmutigt, sie haben kein Vertrauen mehr in Europa“, sagt Antonio Maria Dentamaro. Dies wird von Antonio Gregorio Molinari, geboren 1990, Student der Kunstgeschichte, bestätigt. „Hier im Süden ist die Realität prekär, es ist schwer, an die Zukunft zu glauben. Die Ernüchterung richtet sich in erster Linie gegen Europa, denn die jungen Menschen haben die großen Errungenschaften Europas nicht aus erster Hand erlebt, sie sind sich ihrer nicht voll bewusst. Sie hören zwar, dass Europa eine Hoffnung ist, aber sie erhalten keine Antworten auf ihre Probleme und richten so ihre Frustration auf Europa selbst.“

Ein Europa, das für Luca Carofiglio seinen ökonomischen Ruf hinter sich lassen muss. „Mit dem gemeinsamen Markt und dem Euro haben wir unsere Ziele erreicht. Jetzt müssen wir uns auf neue Themen konzentrieren, wie zum Beispiel die Immigration“, die für Luca das erste große internationale Ereignis ist, das mit vollem Bewusstsein beobachtet wird. Er meint: „Die Situation muss gelöst werden, indem man in die Infrastruktur und Kultur der Herkunftsländer der Migranten investiert, um die Fehler zu korrigieren, die Europa mit dem Kolonialismus gemacht hat.“ 

Europa ist in Bari nicht nur Ausdruck der großen Krisen – Wirtschafts- und Einwanderungskrise – unserer Zeit. Es ist auch ein Europa, das die Herzen wärmt. Dies ist der Fall bei Federica Calabrese, einer echten europäischen Forscherin. Sie promoviert in der Geschichte des alten Christentums zwischen Bari, Iași in Rumänien und Glastonbury in England. Und direkt in England, in Liverpool, war sie Erasmus-Studentin. „Das hat mich sehr bereichert und ich habe verstanden, dass Europa eine ernste Sache ist und dass es nicht der Art und Weise entspricht, wie es uns die Presse sagt, die vor allem darauf ausgerichtet ist, die Konflikte zwischen den Mitgliedsländern aufzuzeigen. Das erste, was ich meinen Eltern sagte, als ich nach Italien zurückkam, war: „Ich bin stolz darauf, Italienerin zu sein, aber ich bin auch stolz darauf, Europäerin zu sein“, erinnert sich Federica, geboren 1993.
Antonio Gregorio Molinari – Federica Calabrese Antonio Gregorio Molinari – Federica Calabrese | © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia

Europa in Bari

Wir machen uns in Bari auf die Suche nach Europa, danach, wie es sich im Mikrokontext manifestiert und wahrgenommen wird. Antonio Gregorio Molinari war sehr aktiv in der Bürgerbewegung, die sich für die Wiederbelebung des – kürzlich mit einem Preis ausgezeichneten – Teatro Margherita im Zentrum eingesetzt hat. Für ihn ist dies zweifellos ein Einsatz mit europäischer Note. „Es war eine Erfahrung, die Bari dem Rest Europas näher gebracht hat, an die Prozesse der Wiederbelebung von Kulturräumen, die von unten ausgehen“, erklärt unser Gesprächspartner.
 
  • Bari, Teatro Margherita © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia
    Bari, Teatro Margherita
  • Bari, Altstadt © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia
    Bari, Altstadt
  • Bari, Altstadt © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia
    Bari, Altstadt
  • Bari, Altstadt © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia
    Bari, Altstadt
  • Bari, Fischer an der Mole San Nicola © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia
    Bari, Fischer an der Mole San Nicola
Für Agata Otranto, die jüngste der befragten Personen (geboren 2000), spiegelt sich Europa in Bari im Hafen und in der Universität wider, mit ihrem wirtschaftlichen und kulturellen Austausch, aber auch in der wachsenden Aufmerksamkeit für die Umwelt. Agata, die an der Fakultät für Literatur studiert und bei der Italienisch-Deutschen Kulturvereinigung „Terra di Bari“ Deutsch lernt, um eventuell in Deutschland einen Erasmus-Austausche machen zu können, gehört zu den Organisatoren der Bewegung Fridays For Future in der Stadt. „Diese Aktionen sind extrem wichtig und müssen immer politischer werden, denn das Ziel besteht darin, die europäischen Länder dazu zu bringen, sich mehr für die Umwelt zu engagieren.“ Und über Greta Thunberg sagt sie: „Sie ist einer dieser „modernen Heiligen“, die für uns Jugendlichen beispielhaft vorangehen.“

Eine europäische Geschichte mit gutem Ausgang ist das unternehmerische Abenteuer von Domenico Colucci. Geboren 1989 ist er einer der Gründer von Nextome, einem innovativen Unternehmen, das Softwarelösungen zur Ortung von Personen und Dingen in geschlossenen Räumen anbietet. „Für offene Räume gibt es GPS, aber es gibt kein Äquivalent für geschlossene Räume. Wir arbeiten daran und verkaufen das Produkt an Unternehmen wie die Metro di Roma und Fiat-Chrysler. Sie erwerben es aus Sicherheits- oder Logistikgründen“, erklärt der Unternehmer. 
Agata Otranto – Domenico Colucci Agata Otranto – Domenico Colucci | © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia Seine Geschichte kehrt das Muster des Braindrain um. „Wir arbeiteten im Ausland, aber wir kamen zurück und nutzten Fördermittel der Region Apulien. Wir könnten nie ein Silicon Valley werden, aber auch hier gibt es brillante Köpfe. Es ist schade, dass sie nach der Investition in ihre Ausbildung dem Ausland „geschenkt“ werden“, sagt Domenico Colucci, der auch in Berlin beim German Tech Entrepreneurship Centre (Gtec), einem der größten innovativen Cluster Europas, gearbeitet hat. „Dank eines Start-up-Programms habe ich dort sechs Monate verbracht. In Berlin habe ich festgestellt, wie schnell die Dinge in Europa sind. Italien kann da nicht mithalten. Sein Motor ist zwar leistungsstark, aber die Karosserie ist die eines Kleinwagens.“

Und doch dürfen wir nicht aufgeben, „denn schließlich sind wir das Land von Leonardo da Vinci“. Ein großer Pionier Europas und der Welt, so der Mitbegründer von Nextome. Wie Adriano Olivetti, der brillante Unternehmer aus Ivrea, der eine große Inspirationsquelle für diesen Jungen des Jahrgangs 1989 ist. „Olivetti gelang es, neue Konzepte einführen, wie zum Beispiel die soziale Rolle des Unternehmens. Er bot den Mitarbeitern wichtige Dienstleistungen – Kantinen, Kindergärten, Wohnungen – und betonte die Notwendigkeit, ein kollektives Wohlbefinden zu schaffen. Aber er war auch bei den Produkten innovativ. Die Olivetti Stores waren das, was die Apple Stores heute sind“, erläutert Colucci, als wir durch die engen Gassen des alten Bari schlendern. Man kann auch über die Zukunft und die Technologie in dieser Ecke von Bari sprechen, wo die Zeit stehen geblieben zu sein scheint.

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