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Bartolomeo Sorge
„Wenn die Politik ihre Werte verliert, verliert sie ihre Seele“

Bartolomeo Sorge im Gespräch
„Gerade in der Globalisierung brauchen wir einen neuen Humanismus“: Bartolomeo Sorge im Gespräch. | Collage (Detail): © privat/TEMPUS CORPORATE

Bartolomeo Sorge (1929–2020) war ein italienischer Jesuit und ein katholischer Gelehrter, der seit der Zeit von Papst Johannes XXIII. und dem Zweiten Vatikanischen Konzil tätig war. Das Interview führte Jörg Nies. Er studierte Philosophie und Theologie und trat 2011 in den Jesuitenorden ein. Er gehört derzeit zur Jesuitenkommunität in Stockholm. 

Nies: Lieber Bartolomeo Sorge, Sie sind seit 1946 Mitglied der Ordensgemeinschaft Gesellschaft Jesu. Sie sind seit Jahrzehnten ein religiöser und politischer Vordenker, heute leben Sie in einer Jesuitengemeinde im italienischen Gallarate – und sehen Europa in einer Krise. Erklären Sie uns das bitte?

Sorge: Ich denke, dass wir in Europa einen Zivilisationswandel mit ganz besonderen Auswirkungen erleben. In der Kulturanthropologie unterscheidet man ja zwei Arten von Krisen: eine ökonomische und eine strukturelle Krise.

Stellen Sie sich das Ganze vor wie ein Haus: Dessen Fundament entspricht der Kultur eines Volkes. Auf diesem kulturellen Sockel stehen die Wände, die ihrerseits die Architektur des Gebäudes bestimmen. All das wird von den Werten der Menschen beeinflusst. Im Inneren des Hauses kann es zu zahlreichen Änderungen kommen – das sind Analogien zu den Wirtschaftskrisen –, die Struktur des Hauses bleibt dabei aber stabil.

Gerade in der Globalisierung brauchen wir einen neuen Humanismus.

Bartolomeo Sorge

In Europa und in der Welt gibt es aber nicht nur interne, ökonomische Veränderungen, sondern auch einen strukturellen Wandel: Das bisherige Gesellschaftsmodell ist nicht mehr zu halten. Ich würde sagen, dass die industrielle Zivilisation – mit ihren Werten, ihrer Kultur, ihrem Fundament – seit Beginn des 21. Jahrhunderts am Ende ist. Auf ihr ruhten aber jene Strukturen, welche die politischen Institutionen in den Bereichen Arbeit, Familie und Bildung prägen. Wenn dieses Fundament kollabiert, fallen auch die Strukturen in sich zusammen. In einer solchen Krise verändern sich die Werte und Sitten: Die Menschen sind über das Fundament des Hauses gespalten. Die Krise ist nicht mehr ausschließlich ökonomisch: Es ist das gesamte Gesellschaftsmodell, das jetzt überdacht werden muss.

Heute erleben wir die Wirtschaftskrise, die Folge der Industrialisierung ist. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, was wir tun können, weil das Modell von gestern nicht mehr geeignet und das von morgen noch nicht erfunden ist. Wir müssen neue Wege finden. Ich sage immer, die Herausforderung des 21. Jahrhunderts besteht darin, „miteinander zu leben und unsere Unterschiede zu respektieren“, denn gerade in der Globalisierung brauchen wir einen neuen Humanismus. Die Zukunft ist ungewiss, aber eine Verpflichtung. Der Bau eines neuen gemeinsamen Hauses ist, wenn man so will, das Schöne und das Schwierige unserer Zeit.

Wenn die Politik ihre Werte verliert, verliert sie ihre Seele. Wenn das passiert, verschlechtert sich der gesamte Organismus, verrottet und korrumpiert. Tatsächlich ist die Krise auch eine Krise der Ideale, die wir heute in allen Ländern sehen. Wenn die Kraft der Moral schwindet, hat die Korruption freie Bahn – auch unsere vermeintlich festen Demokratien sind davor nicht gefeit.

Nies: Wie sollten die heutigen Werte in Bezug auf die Moral aussehen?

Sorge: Dazu will ich Johannes Paul II. zitieren, der 1995 anlässlich des 50. Jahrestages ihrer Gründung in einer Rede vor den Vereinten Nationen sagte: „Beginnen wir mit der gemeinsamen ethischen Sprachlehre, die dem Gewissen der gesamten Menschheit eingeschrieben ist.“ Er sagte dies den Hunderten von Menschen unterschiedlicher Herkunft im Publikum. Afrikanische, europäische und asiatische Völker, Buddhist*innen, Atheist*innen, Muslim*innen und Katholik*innen: Alle Menschen, davon war der Papst überzeugt, haben eine gemeinsame ethische Sprachlehre mit bestimmten Grundwerten.

Zum Beispiel: die Würde des Menschen. Sie werden niemanden finden, der diesen Wert im Grundsatz ablehnt. Die Vorstellungen darüber, wie sie zu verteidigen ist, sind zwar unterschiedlich, aber nicht das Prinzip dahinter. Oder: die Solidarität. Der Mensch ist in erster Linie ein „Wesen in Beziehungen“. Niemand kann alleine existieren. Menschlich zu sein bedeutet, in Beziehungen zueinander zu stehen. Wenn wir diese Beziehungen zueinander verlieren, zerstören wir auch die Würde des Menschen.

Dann gibt es die Subsidiarität, welche die Entfaltung der individuellen Fähigkeiten, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung beschreibt – jeder Mensch wird also für das, was er kann, auch geschätzt. Ein anderer essenzieller Grundwert betrifft das Gemeinwohl: Das Wohlergehen eines jeden Einzelnen innerhalb einer Gesellschaft erreichen wir demnach entweder gemeinsam oder eben nicht. Die Bewahrung der Schöpfung ist ein Beispiel dafür. Die ökologische Krise stellt uns vor eine Herausforderung über Leben und Tod. Entweder wir kümmern uns um den Erhalt des Planeten oder wir gehen an den Folgen zugrunde.

Die ökologische Krise stellt uns vor eine Herausforderung über Leben und Tod.

Bartolomeo Sorge

Wenn man diese Prinzipien der gemeinsamen ethischen Sprachlehre im Auge behält, können sie die Grundlage für den neuen globalisierten Humanismus sein – einer neuen, in der Pluralität vereinten Welt. Dann können die Zivilisationen daran wachsen und nach und nach neue Werte entwickeln. Die Verfassungen der einzelnen Völker können eigene, für die Nation wichtige Werte besitzen, das ist kein Problem. Doch wir müssen ein „Fundament“ für das neue Haus finden. Die Institutionen müssen sich auf Grundlage dieses neuen Bewusstseins verändern. Wir müssen die bestehenden Abkommen revidieren, insbesondere angesichts der neuen Migrationsbewegungen. Es handelt sich dabei um ein neues Problem, typisch für das dritte Jahrtausend.

Dann brauchen wir die „Bewohner“. Wir haben das Haus Europa gebaut – das bedeutet, die Deutschen müssen deutsch bleiben, aber sie müssen auch die gemeinsame Kultur akzeptieren, jenes Fundament unseres gemeinsamen Hauses. Es geht dabei weniger darum, Deutschland, Italien und Frankreich europäisch zu machen, sondern vielmehr darum, Deutsche, Italiener und Franzosen zu Europäer*innen zu machen. Es geht um eine neue Form des Menschseins. Das ist wichtig zu wissen: Der Mensch alleine ist in der Lage, die Geschichte zu verändern.

Ich habe gesehen, dass es möglich ist, die Politik auch in Zeiten einer strukturellen Krise zu erneuern.

Bartolomeo Sorge

Würde mich jemand nach einem einzigen Begriff fragen, mit dem sich diese strukturelle Krise bewältigen lässt, dem antwortete ich: Bildung. Wenn wir in Bezug auf Technologie keine neuen Arbeitsformen und keine neue Kultur ausbilden, wenn wir keine entsprechenden Eliten herausbilden, wird es uns im dritten Jahrtausend nicht gelingen, den Kampf um ein modernes vereintes Europa zu gewinnen. Dann werden selbst die aktuellsten und modernsten Gesetze nichts taugen.

Nies: Mitte der 1980er-Jahre gründeten Sie das Istituto di Formazione Politica „Pedro Arrupe“ in Palermo. War es diese Art von Bildung, die Sie dort etablieren wollten?

Sorge: Ja, ganz genau. Als ich nach Palermo ging, war das ein neues Kapitel in meinem Leben – ein Beitrag zu meiner europäischen Bildung, nachdem ich 25 Jahre lang theoretisch geforscht und gelehrt hatte. Bis dahin war ich im Vatikan und im Quirinalspalast ein- und ausgegangen, wo ich mich mit drei Präsidenten der Republik traf. Das war lange Zeit meine Welt!

Doch dann stand ich in den Straßen von Palermo, wo so viele Menschen von der Mafia geknechtet und getötet wurden. Ich fragte mich, wie wir Palermo bei der Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit helfen können. Die Antwort lautete: mit Bildung. Wir entwickelten Programme gegen Verbrechen und Korruption und schafften es, in der Zivilgesellschaft ein neues Bewusstsein zu schaffen.

Wir wollten die Welt verändern und begannen bei den Menschen in den Straßen, nicht bei denen in den Palästen. Wir begannen in der Nachbarschaft, mit einfachen Bürger*innen, Gläubigen und Nichtgläubigen, mit Rechten und mit Linken. Die ganze Stadt war bereit, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen und Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen. Das war der Beginn des sogenannten „Frühlings von Palermo“, einer Vereinigung des Gewissens und der gemeinsamen ethischen Sprachlehre, die alle Menschen guten Willens verband.

In Palermo lernte ich, dass sich Politik auch in Zeiten einer strukturellen Krise erneuern kann. Meine Zeit dort war eine fundamentale Bestätigung meiner theoretischen Forschungen. Zu den Lektionen von Palermo gehört: Das Vertrauen in die Zukunft ist abhängig von unserer Bildung, unseren Idealen und von unserer Art des Zusammenlebens, von der Achtung derer, die anders sind.

Dann kam Papst Franziskus, der uns noch mehr darin unterstützte, als Kirche in die Welt hinauszugehen. Dabei geht es nicht um uns Gläubige als eine Einheit, von der andere ausgeschlossen sind. Die Überzeugung, dass alle Menschen vereint in einem gemeinsamen Haus leben – das ist die Inkarnation des Christentums in der heutigen Geschichte. Und genau so lautet die Agenda des Papstes: Einheit in Vielfalt ist genau das, was die Welt braucht.

Nies: Wie kann die Kirche im Hinblick auf die Einheit in Europa helfen? Welchen Rat geben Sie der jungen Generation?

Sorge: Die Kirche muss den Zement liefern, der die Ziegel des Hauses verbindet, Ziegel, die Sinnbild sind für die Liebe. Ich glaube, der Dienst der Kirche am Aufbau eines vereinten Europas, einer vereinten Welt, besteht nicht darin, dem Europäischen Parlament Gesetze vorzuschlagen. Es geht darum, alle zu lieben und alle einzuladen, sich gegenseitig als Brüdern und Schwestern zu helfen. Die Zeit dafür ist gekommen.
 

Die Kirche muss den Zement liefern, der die Ziegelsteine des Hauses verbindet.

Bartolomeo Sorge

Es gibt immer mehr Menschen, die sich engagieren und Dinge verändern wollen. Wenn sich die Zivilgesellschaft in Bewegung setzt, beginnt der Wandel. Ich habe es selbst in Palermo erlebt: Die Menschen stehen auf. Das ist ein Zeichen für Hoffnung.

Die Menschheit ist rational, auch im politischen Leben gibt es Vernunft. Ich denke, Europa kann mit seinem zweitausendjährigen kulturellen Erbe eine entscheidende Kraft für die globale Einheit sein, die auch weiterhin Fortschritte macht. Niemand kann die Geschichte aufhalten – aber sie kann gelenkt werden.

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