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Nachbarschaften: Konstanz – Kreuzlingen | 1
Was von der Grenze übrig bleibt

Straßenschild an der Grenze entlang der Wiesenstraße
Straßenschild an der Grenze entlang der Wiesenstraße | © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

Konstanz und Kreuzlingen bilden zusammen die bevölkerungsreichste Agglomeration in der Bodenseeregion. Eine der beiden Städte liegt in Deutschland, die andere in der Schweiz. Unser Autor Roberto Sassi war für uns vor Ort und hat sich angesehen, wo einst der Grenzzaun verlief.

Von Roberto Sassi

Die Grenze entlang

Die Wiesenstraße ist eine typische Wohnstraße: zwei- bis dreistöckige Häuser mit spitzen Dächern und Geranien auf den Fensterbänken, davor ordentlich geparkte Kleinwägen. Ungefähr zweihundert Meter zieht sich die Straße durch den Süden von Konstanz, wenige Schritte vom größten Einkaufszentrum der Region und dem Bahnhof entfernt. Weitere zweihundert Meter führt sie dann durch die Gemeinde Kreuzlingen in der Schweiz, wo sie denselben Namen trägt, aber etwas breiter und zweispurig wird, mit mehr Bäumen und etwas größeren Abständen zwischen den Häusern.

Als ich die Wiesenstraße an einem kühlen Nachmittag Anfang Juli entlanggehe, hat es gerade aufgehört zu regnen. Es war einer dieser sommerlichen Wolkenbrüche von gerade einer Zigarettenlänge, nach denen die Wiesen durchnässt sind und das Gras duftet. Ich bin mehr oder minder zufällig gerade hier gelandet und doch ist das ein Glück, denn nun stehe ich vor dem unauffälligsten Grenzübergang, den ich je gesehen habe. Eine rot-weiße Kette, wie sie normalerweise zum Absperren von Privatstraßen verwendet wird, hängt quer zwischen zwei Straßenschildern, zwischen denen ein weiterer, kleiner Pfosten positioniert ist. Fußgänger*innen und Fahrradfahrer*innen – von denen ich hier allerdings nur wenige sehe – umgehen bzw. umfahren diese „Sperre“, indem sie auf den schmalen Seitenstreifen ausweichen, als ob nichts wäre. Die meisten von ihnen sind in Richtung Konstanz unterwegs.

Bis vor fünfzehn Jahren versperrte hier ein Zaun den Weg. Die Schweizer Regierung hatte ihn im Oktober 1939 errichten lassen, um den Strom der aus Nazideutschland fliehenden Juden einzudämmen, weshalb er auch unter dem Namen „Judenzaun“ bekannt war. Der zweieinhalb Meter hohe Drahtzaun verlief vom Bodenseeufer über die Wiesenstrasse bis zum Hauptzoll. Im Winter desselben Jahres stellte die Wehrmacht die Absperrung dann mit der Schließung des Abschnitts zwischen dem Hauptzoll und dem nördlich gelegenen Rhein fertig. Erst 70 Jahre später, zwischen 2006 und 2009, wurde der Zaun vollständig entfernt und der eine oder andere nahm sich ein paar verrostete Drahtmaschen als Zeugnis einer vergangenen Epoche mit nach Hause, ähnlich wie es die Berliner mit Bruchstücken der Mauer getan hatten. Als im März 2020 dann erneut ein Zaun errichtet wurde, um die Mobilität in Zeiten von Corona einzuschränken, kam das bei den Einwohner*innen der beiden Städte gar nicht gut an. Sie trafen sich am Grenzzaun, um miteinander zu plaudern, teils wurde einander durch das Gitter geküsst. Schließlich sahen sich die Behörden gezwungen, die Absperrungen nach knapp neun Wochen wieder zu entfernen.

Zwei Städte, ein Magazin

Um von der Wiesenstrasse zum Hauptzoll zu gelangen, muss man eine leicht ansteigende Straße hinaufgehen, die nicht ohne Grund „Zollstrasse“ heißt. Auch der eigentümliche Name eines Restaurants – „Traube am Zoll“ – erinnert an die Nähe zur Grenze. Was einst ein Grenzübergang für Autos und Fußgänger*innen war, mit großer wellenförmiger Überdachung und klassischem Wachcontainer der Polizei, ist heute kaum mehr als eine Kunstinstallation, die nur selten mit Grenzbeamten besetzt ist. Eine Reihe massiver Steinkugeln behindert auf beiden Seiten die Durchfahrt mit dem Auto, inzwischen kommt man hier nur zu Fuß oder über die entsprechenden Fahrradstreifen durch. In der Mitte jenes Bereichs, in dem früher die Kontrollen erfolgten, steht eine Reihe von Tafeln, die von der Geschichte der Grenze erzählen. Eine schmale Holzskulptur mit menschlichen Zügen erinnert an die Geflüchteten, Vertriebenen und Heimatlosen. Auf den Wachcontainer der Polizei hat jemand mit rotem Permanentmarker „No borders“ geschrieben.

Hier beginnt Kreuzlingen: 23.000 Einwohner*innen, davon 55 % Nicht-Schweizer*innen (wobei die Deutschen klar in der Mehrheit sind). In der Mitte des Siedlungsgebiets befindet sich die stark befahrene Hauptstrasse, die Kreuzlingen in zwei Hälften teilt, mit den westlichen Stadtvierteln auf der einen, und jenen am See auf der anderen Seite. Die Gegebenheiten erinnern mehr an einen Vorort als an eine Kleinstadt, es gibt keinen richtigen Stadtkern und mehr Kreisverkehre als kleine Plätze. An der Hauptstrasse reihen sich Geschäfte, Bankfilialen und ein paar Cafés aneinander, zum See hin wird das Stadtbild zunehmend von Häusern mit Garten sowie Hotels, Campingplätzen und Sportanlagen geprägt. Für vieles – Kultur, Gastronomie, Einkäufe des täglichen Bedarfs – geht oder fährt man hier nach Konstanz, das 85.000 Einwohner*innen zählt (davon 10.000 Studierende). Die deutsche Stadt hat mit ihrer mittelalterlichen Altstadt und der zeitlosen Uferpromenade eine deutlich lebendigere Kultur- und Gastronomieszene zu bieten. Zusammen bilden Konstanz und Kreuzlingen die bevölkerungsreichste Agglomeration der Region.

Diese Idee der urbanen Einheit, die vor allem aus den kleinen Dingen des täglichen Lebens resultiert, ist das Grundkonzept von „Nun, Magazin“. Die kostenlose, halbjährlich auf beiden Seiten der Grenze erscheinende Zeitschrift wurde im Jahr 2017 von Annabelle Flaig-Höpfer und Miriam Stepper ins Leben gerufen. NUN beeindruckt mit einem auffallend durchdachten Layout und wirft einen frischen Blick auf die lokalen Lebenswelten, wobei jede Ausgabe einem bestimmten Thema gewidmet ist. Ermöglicht wird das Projekt vor allem durch Spenden von Leser*innen, Werbung und ehrenamtliche Mitarbeit. „Wir wollten ein grenzübergreifendes Magazin“, erklären Flaig-Höpfer und Stepper, die ich in einem Co-Working-Café in der Konstanzer Altstadt zum Frühstück treffe. „Aus unserer Sicht sind das nicht zwei Städte, sondern eine“, fährt Stepper fort, die mir als Beispiel eine Szene aus ihrem Alltag beschreibt: „Die Grenze ist so unauffällig, dass ich sie beim Joggen manchmal ohne Papiere überquere und mir das erst bewusst wird, wenn ich schon wieder zuhause bin.“
Die Gründerinnen des NUN Magazins Annabelle Flaig-Höpfer (links) und Miriam Stepper (rechts)

Die Gründerinnen des NUN Magazins Annabelle Flaig-Höpfer (links) und Miriam Stepper (rechts) | Foto (Ausschnitt): © Milena Schilling

Wie so oft bei Städten, die eine gemeinsame Grenze haben, wirken Unterschiede und Ähnlichkeiten als trennende und verbindende Elemente, deren Dynamik manchmal nur schwer zu verstehen ist, wenn man sie nicht im Alltag erlebt. In Kreuzlingen und Konstanz spricht man dieselbe Amtssprache, aber zahlt mit unterschiedlicher Währung. Eine Stadt befindet sich in der Europäischen Union, die andere nicht. Und auch wenn es stimmt, dass Einkaufen in Deutschland günstiger ist, „sind die Mieten auf Schweizer Seite oft leistbarer“, wie Flaig-Höpfer und Stepper mir gegenüber betonen. Während die Gründerinnen von NUN Unterschiede und Ähnlichkeiten aufzählen, frage ich mich, was die beiden Städte am stärksten miteinander verbindet. Ich gebe die Frage an die beiden weiter und sie scheinen keine Zweifel zu haben. Fast unisono antworten sie: der See.

Grenzgeschichten

Ein Blick auf die Karte von Konstanz macht einmal mehr deutlich, dass Grenzen menschlicher Logik folgen und das Ergebnis historischer Ereignisse sind. Die Altstadt ist das einzige Stück deutsches Territorium südlich des Rheins am Westufer des Sees. Eine Brücke verbindet sie mit den nördlich gelegenen Stadtteilen, es gibt keine Landgrenze zum Rest der Stadt und damit zum Rest von Deutschland. In der Zeit von 1548 und 1806 gehörte Konstanz zum habsburgischen Vorderösterreich und wenn das heute ganz anders ist, dann auch wegen der napoleonischen Eroberungen und der anschließenden Gründung des Großherzogtums Baden, das später dem deutschen Reich einverleibt wurde. „Wenn wir uns die Geschichte der Region ansehen, wird klar, dass es ein reiner Zufall ist, dass wir Deutsche sind“, meint Ralf Seuffert zu mir, während wir darauf warten, dass unser Mittagessen serviert wird. Wir sitzen in einem Restaurant unweit vom Bahnhof, wenige Schritte entfernt von seinem Fahrradladen. Der 63-jährige ausgebildete Historiker und Fremdenführer erzählt mir von der bewegten Geschichte des Grenzgebiets und der Zeit, als der Zaun die beiden Städte trennte. Er hat auch eine Anekdote aus seiner Kindheit für mich: „In den sechziger Jahren spielten wir als Kinder auf einem Fußballplatz nahe der Grenze, auf Schweizer Seite, unweit vom See. Um dorthin zu kommen, mussten wir eine kleine Zollstation passieren. Manchmal führte ein allzu kräftiger Schuss dazu, dass der Ball auf der anderen Seite, in Deutschland, landete. Und weil da der Zaun war, mussten wir, um ihn zurückzuholen, wieder an der Zollstation vorbei.“

Im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Städten wurde Konstanz während des Zweiten Weltkriegs nicht von den Alliierten bombardiert. Dass die Altstadt unbeschadet geblieben ist, ist auch der Nähe zur neutralen Schweiz zu verdanken. „Nachts wurde die Beleuchtung angelassen, genau wie im benachbarten Kreuzlingen, weshalb ein Bombenangriff zu riskant war“, berichtet Seuffert. Stark vereinfacht könnte man also sagen, dass die Grenze Konstanz vor der Zerstörung bewahrt hat. Also frage ich meinen Gesprächspartner nach dem Mittagessen, nachdem wir so lange über die Grenze gesprochen haben, ob er Lust hat, mich zu einer Besichtigung zu begleiten und ob ihm diesbezüglich ein bestimmter Ort in den Sinn kommt. Er denkt ein paar Sekunden nach, dann meint er: „Gehen wir nach Klein Venedig.“

[Fortsetzung folgt …]
 

Die Bodensee-Region

Der Bodensee befindet sich in den Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg. Er ist der größte, tiefste und wasserreichste See Deutschlands. An ihn grenzt nicht nur Deutschland, sondern im sogenannten Dreiländereck auch Österreich und die Schweiz. Die Bodensee-Region sieht sich heute als ein einziger Kulturraum mit großem Einzugsgebiet, das sich weit ins Hinterland erstreckt und bis zu drei Millionen Einwohner*innen zählt.

Bodensee - Lago di Costanza - Logo

Die Reise von Roberto Sassi wurde mit der Unterstützung der Internationalen Bodensee Tourismus GmbH durchgeführt. Ein besonderer Dank an Alina Milz der Internationalen Bodensee Tourismus GmbH und Lisa Mersin der Bodensee-Vorarlberg Tourismus GmbH.

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