Nachbarschaften: Konstanz – Kreuzlingen – Bregenz| 2
Drei Länder, ein See
Eine Skulptur der Kunstgrenze | © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi
Im zweiten Teil seiner Reportage fährt unser Autor Roberto Sassi mit dem Zug von der Schweiz ins österreichische Bregenz am Südufer des Sees, wenige Kilometer von der Grenze zu Deutschland entfernt.
Von Roberto Sassi
Den linken Fuss in der Schweiz, den rechten in Deutschland
Schilder, Grenzsteine, Bodenplatten aus Metall, Zäune, Mauern: Zu Land können Grenzen auf vielerlei Arten sichtbar gemacht werden. Wenn es aber um Grenzen zu Wasser geht, ist die Sache schon komplizierter und der Fall Bodensee ist ein typisches Beispiel dafür. Im Gespräch mit Ralf Seuffert erfahre ich, dass die drei Länder, die sich den See teilen – Deutschland, Schweiz und Österreich – sehr unterschiedliche Ansichten zur Frage des Grenzverlaufs haben. Für die Schweiz verläuft die Grenze ganz einfach in der Mitte des Sees und teilt diesen in drei Teile, die jeweils in die Zuständigkeit eines Landes fallen. Österreich vertritt die Position, dass der Obersee – der untere und breitere Teil des Seebeckens – ab einer Wassertiefe von mehr als 25 Metern als Kondominium und damit als gemeinschaftlich verwaltetes Hoheitsgebiet aller Staaten zu betrachten ist. Und Deutschland hat sich bisher nicht eindeutig festgelegt.Ich denke über diese Situation nach, während ich gemeinsam mit Seuffert durch Klein Venedig, ein Grünareal im Südosten der Stadt, spaziere. Um dorthin zu gelangen, haben wir die Brücke über die Bahnhofsgleise genommen, von wo sich Schritt für Schritt der Blick auf eine große Wiese samt Riesenrad und Rasenfußballplätzen öffnet. Dahinter erstreckt sich der See, eingefasst in die sanfte Biegung der Konstanzer Bucht. Vielleicht ist es aufgrund der grauen Wolken, die wenig einladend wirken, aber um zwei Uhr nachmittags ist hier kaum jemand unterwegs. Eine kleine Gruppe von Kindern spielt Fußball, eine Dame in ihren Siebzigern steuert das Ufer an, ganz offensichtlich mit der Intention, schwimmen zu gehen, auf dem Parkplatz entlang der Hafenstraße stehen nur wenige Autos. „Und jetzt sind wir in der Schweiz“, meint Seuffert lächelnd, als er von der Wiese auf den Schotterweg direkt vor dem Grenzschild tritt.
Wo bis 2006 ein Zaun stand, befindet sich jetzt die Kunstgrenze, mit 22 Skulpturen aus Stahl, die stilisierte Tarot-Trümpfe darstellen. Die von Johannes Dörflinger entworfenen Skulpturen wurden 2007 aufgestellt und sind seither eine wahre Touristenattraktion geworden. Im Jahr 1939, als die erste Absperrung errichtet wurde, gab es Klein Venedig praktisch noch nicht, genauer gesagt war der Großteil des Gebiets von Wasser bedeckt. In der Nachkriegszeit wurde das Gebiet aufgeschüttet und als Müllkippe benutzt, die schließlich mit einer Erdschicht bedeckt wurde. 1973 wurde dann der Zaun errichtet. Heute kommen die Einwohner*innen beider Städte hierher, um spazieren zu gehen, Sport zu treiben und ein paar Stunden am Seeufer zu verbringen. „Die Grenze ist wichtig, sie bestimmt, wer wir sind, auch wenn sie sehr diskret ist“, meint Seuffert, der exakt über dem schmalen Betonstreifen steht, der die Grenze markiert. Mit dem rechten Fuß steht er in Deutschland, mit dem linken in der Schweiz. „Wir gehen in den Thurgau, ohne darüber nachzudenken, dass wir damit Deutschland und die Europäische Union verlassen. Dass wir dieselbe Sprache – Hochdeutsch – sprechen, trägt sicher dazu bei, dass man sich nicht im Ausland fühlt.“
Ich versuche, von Klein Venedig aus einen Blick auf die Südspitze des Sees und damit auf den österreichischen Uferabschnitt zu erhaschen. Der ist gerade einmal 28 Kilometer lang, während der Schweizer Abschnitt 72 Kilometer und der deutsche gar 173 Kilometer misst. Das österreichische Ufer ist mein Ziel für morgen, wenn ich mit dem Zug nach Bregenz in Vorarlberg fahre. Ich weiß nicht, ob es am Dunst liegt, aber ich kann nur vage Umrisse erkennen, die auch einfach tief hängende Wolken sein könnten. „Es ist reiner Zufall, dass wir Deutsche sind.“ Der Satz von Seuffert heute Mittag geht mir nicht aus dem Kopf. Es ist die alte Geschichte der Grenzen: Sie sind das Ergebnis einer Verkettung von Ereignissen und menschlichen Entscheidungen. Hier scheint sich alles um den See zu drehen. Sich mit dieser historischen Zufälligkeit und damit auch mit den heutigen Grenzen auseinanderzusetzen, bedeutet, den See einmal mehr in den Fokus zu rücken, ihn als gemeinsamen Raum zu definieren. Das zu tun, ist das Naheliegendste, aber vielleicht auch das Schwierigste.
Zwischen der Schweiz und Deutschland
Der RE1 folgt etwa dreißig Kilometer lang dem Seeufer, vorbei an kleinen Dörfern mit netten Häusern mit Garten und vorbei an Campingplätzen mit Wohnmobilen der neuesten Generation. An einem gewissen Punkt entfernt sich der Zug dann vom Seeufer und fährt in den Thurgau. An die Stelle von Fahrräder treten Traktoren, die umliegenden Hügel erweisen sich als gepflegte Weingärten und die Landstraßen haben kein einziges Schlagloch. Es ist genau so, wie man sich die Schweiz vorstellt. Der Regionalzug bringt mich bis Sankt Gallen, wo ich in den deutlich volleren Eurocity steige, gut gefüllt mit Fahrradtourist*innen, denen der strömende Regen die Laune vermiest hat.
Bregenz liegt in der Mitte einer Bucht, vier Kilometer südwestlich von der Grenze zu Deutschland und zehn Kilometer nordöstlich von der Grenze zur Schweiz. Der Stadtkern, hinter dem bewaldete Hügel und die mittelalterliche Oberstadt aufragen, besteht aus einem Gewirr von gepflasterten Gassen, deren touristische Ausrichtung sich an der großen Zahl an Restaurants und Cafés zeigt. Das Festspielhaus liegt direkt am See. Der imposante Modulbau wurde Ende der siebziger Jahre errichtet und mehrfach erweitert, seine modernen Formen fallen auf dem großen, von Bäumen umrahmten Platz ins Auge. Auf der Westseite des Gebäudes liegt ein Teil der Seebühne auf, die mit ihren 7.000 Sitzen das weltweit größte Theater mit Seeblick ist. Im Inneren des Gebäudes scheint alles nagelneu, einige Räume haben einen Parkettboden, andere Böden aus weißem Beton, durch die Glasfronten dringt helles Licht. Die Gesamtwirkung ist beeindruckend, noch nie habe ich in einer Kleinstadt mit 30.000 Einwohner*innen so ein Gebäude gesehen.
In einem kleinen Sitzungsraum im zweiten Stock spreche ich mit Ursula Kaufmann, der Marketingleiterin bei Kongresskultur Bregenz, dem Unternehmen, das die Veranstaltungen im Festspielhaus organisiert. Unser Thema sind Grenzen. „In unserer Region bestehen zwischen Österreich, Deutschland und der Schweiz in den unterschiedlichen Bereichen, so auch im Kulturbereich, enge Kooperationsbeziehungen. Der Großteil unserer Kongressteilnehmer*innen und der Tourist*innen in Bregenz kommt aus Deutschland“, berichtet sie. Ich frage sie, welcher Aspekt bei der nachbarlichen Zusammenarbeit mit den Deutschen und Schweizern am herausforderndsten ist. „Manchmal ergeben sich Schwierigkeiten aufgrund der Bürokratie der drei Länder. Es kommt vor, dass die Unternehmen, mit denen wir zusammenarbeiten eine andere Rechtsform haben als wir und direkt von den Gemeinden abhängig sind. Das kann die Dinge ein wenig verkomplizieren.“ Außerdem berichtet sie, dass die Corona-Pandemie für einige Schwierigkeiten bei der Organisation von Veranstaltungen gesorgt hat, vor allem aufgrund der unterschiedlichen Präventionsmaßnahmen. „Aber im Alltag wird die Grenze, zumindest die zu Deutschland, gar nicht wahrgenommen.“ Wie Seuffert betont auch sie den Faktor Sprache: „Was die Schweiz betrifft, ist die Situation ein wenig anders, auch aufgrund der Währung und der Sprache. In den angrenzenden deutschen Gemeinden spreche ich gewöhnlich im Dialekt, in der Schweiz auf Hochdeutsch.“
Zwei Jahrhunderte später
Ich beschließe, vor meiner Rückfahrt noch die sogenannte Pipeline entlangzuspazieren. Der 2023 nach zwölfjährigen Bauarbeiten eröffnete Radweg ist ungefähr zwei Kilometer lang und folgt der Uferlinie vom Bregenzer Stadtkern bis Lochau, der letzten österreichischen Gemeinde vor der Grenze. Seinen Namen verdankt der Weg der Ölpipeline, die bis 1997 zwischen dem Ufer und der nahegelegenen Bahnlinie verlief. Die Promenade führt nicht direkt bis zur Grenze, aber sie mündet in eine Straße, über die man über den kleinen Fluss Leiblach auf deutschen Boden gelangt.Es ist später Nachmittag, am Himmel ziehen große graue Wolken auf, der Wasserspiegel des Sees ist gestiegen und ein Teil des Schotterufers und der Wiese steht unter Wasser. Ich stehe vor einer merkwürdigen Konstruktion aus dunklem Holz mit grünen Fensterläden und Geranien vor den Fenstern: ein enormer hufeisenförmiger Pfahlbau mit zwei Etagen, der wenige Meter vom Ufer entfernt im Wasser steht. Es ist das Nostalgiebad „Mili“, das im Jahr 1825 vom österreichischen Heer für die jungen Rekruten der nahegelegenen Bilgeri-Kaserne errichtet wurde. 1814 waren Bregenz und Vorarlberg nach einem achtjährigen bayrischen Zwischenspiel wieder an Österreich zurückgefallen. In Grenznähe militärische Einrichtungen zu haben, entsprach der militärischen Logik jener Zeit. Über die kleine Brücke, die das Bad mit der Pipeline verbindet, betrete ich den Pfahlbau. Auf der Terrasse sitzen zwei Jungen und ein Mädchen, die Bier trinken. Sie lächeln mir zur Begrüßung zu, dann kehrt ihr Blick auf den vom Wind leicht gekräuselten See zurück. Auch ich betrachte den See und versuche mir vorzustellen, wie das „Mili“ vor zwei Jahrhunderten wirken musste, mit jungen Rekruten im Wasser, einer unsicheren Zukunft und einer Grenze, so nahe wie heute, die eine ganz andere Bedeutung hatte.
[Teil 1: Was von der Grenze übrig bleibt]
Die Bodensee-Region
Der Bodensee befindet sich in den Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg. Er ist der größte, tiefste und wasserreichste See Deutschlands. An ihn grenzt nicht nur Deutschland, sondern im sogenannten Dreiländereck auch Österreich und die Schweiz. Die Bodensee-Region sieht sich heute als ein einziger Kulturraum mit großem Einzugsgebiet, das sich weit ins Hinterland erstreckt und bis zu drei Millionen Einwohner*innen zählt.
Kommentare
Kommentieren