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Geteilte Blicke
Francesca Melandri: „Demokratie ist das Gegenstück zur politischen Gewalt“

Francesca Melandri auf dem Symposium "Vogliamo tutto" | Rom – Goethe-Institut, 24. Oktober 2024
Francesca Melandri auf dem Symposium Vogliamo tutto | Rom – Goethe-Institut, 24. Oktober 2024 | © Goethe-Institut Italien | Foto (Detail): Francesco Cicconi

Bei der Veranstaltung „Vogliamo tutto“ im Goethe-Institut Rom diskutierten die Schriftstellerin Francesca Melandri und die Historikerin Petra Terhoeven über die Jahre des politisch motivierten Terrorismus der 70er Jahre in Deutschland und Italien. Wir waren dabei und sprachen im Anschluss mit Melandri über die Narben, die die „anni di piombo“ – die „bleiernen Jahre“ – in Italien hinterlassen haben, sowie über die großen Herausforderungen, mit denen wir heute konfrontiert sind.

Von Christine Pawlata

Die späten 70er Jahre beschreibt Melandri vor einem vollen Saal als eine düstere Zeit, die sie als Jugendliche erlebte. In dieser Zeit, die als „anni di piombo“ bekannt ist, kam es in Italien zu einer Welle politisch motivierter Gewalt, die durch rechts- und linksextremistische Gruppen wie die Roten Brigaden und die NAR ausgelöst wurde. Rund 400 Menschen wurden ermordet. „Ich erinnere mich an die Stadt unter Militärkontrolle", erzählt die 1964 geborene Schriftstellerin. „Die Jungen gaben sich gegenseitig Ratschläge, wie man sich bei einer Straßensperre verhalten sollte.“

Andere Perspektiven

In ihren Romanen setzt Melandri sich intensiv mit der Vergangenheit auseinander und damit, wie sie bis in die Gegenwart hineinwirkt. In Über Meereshöhe (2012) erzählt sie von einer zufälligen Begegnung auf einer Gefängnisinsel in den späten 1970er-Jahren: Paolo, ein ehemaliger Lehrer für Geschichte und Philosophie, besucht seinen Sohn, der für die „Revolution“ gemordet hat. Luisa, Bäuerin und alleinerziehende Mutter, ist auf der Insel um ihren gewalttätigen für Mord verurteilten Mann zu sehen. Ein plötzliches Unwetter zwingt sie, die Nacht auf der Gefängnisinsel zu verbringen. Sie werden bewacht – und mit Gastfreundschaft aufgenommen – vom Gefängniswächter Nitti und seiner Frau Maria Caterina.

„Lange Zeit wurde über die Opfer fast gar nicht gesprochen, höchstens dann, wenn sie berühmt waren – Journalisten oder Politiker, aber nie, wenn es gewöhnliche Menschen waren. Viel mehr wurde über die Täter gesprochen. Erst nach einiger Zeit begann man, über die Opfer zu sprechen, aber nie so viel wie über die Terroristen,“ erklärt Melandri. „Ich wollte einen anderen Blickwinkel zeigen – den der Gesellschaft, also von uns allen.“ Deshalb entschied sie sich für die Perspektive der Angehörigen der Terroristen und der Gefängniswärter, die von den Gefangenen unter anderem mit dem grausamen Begriff „magazzinieri di carne umana“ – „Lagerarbeiter für Menschenfleisch“ – bezeichnet wurden.

Unreife Demokratie

Für Melandri ist das schwerwiegendste Erbe des politischen Terrorismus das persönliche Leid der Opfer und ihrer Familien. „Es widerstrebt mir, über Epochen der Gewalt zu sprechen, ohne die konkrete Realität dieser Gewalt im Blick zu behalten,“ betont sie im Interview mit dem Goethe-Magazin. „Menschen wurden verletzt und getötet. Das darf niemals in Vergessenheit geraten.“

In der italienischen Gesellschaft hallen die „anni di piombo“ bis heute nach: „Das nachhaltigste Phänomen, das nicht in den 70er-Jahren entstand, aber vielleicht dort seinen Ausdruck fand, ist die mangelnde demokratische Reife des Landes,“ sagt Melandri. „Demokratie ist das Gegenstück zur politischen Gewalt. Im Parlament tauscht man sich über unterschiedliche Ansichten aus, anstatt aufeinander zu schießen. Man akzeptiert, dass dort auch Menschen sitzen, die anderer Meinung sind.“

Italien habe nur wenige Jahre echter Demokratie erlebt, so Melandri weiter. „Nach der Gründung 1861 folgte bald der Erste Weltrkieg, der Faschismus und der Zweite Weltkrieg. Nach dem Krieg hatten wir eine blockierte Demokratie, die nie vollständig war, weil ein Drittel der Wählerschaft nicht von einer Regierung mit Ministern repräsentiert werden konnte.“

Melandri spielt auf die Kommunistische Partei Italiens (PCI) an, die trotz starker Wahlerfolge auf nationaler Ebene nie offiziell an einer Regierungskoalition teilnehmen durfte. Mit 1,8 Millionen Mitgliedern war sie die größte kommunistische Partei Westeuropas, auf Grund der NATO-Mitgliedschaft Italiens und des kalten Krieges lag eine Regierungsbeteiligung der PCI jedoch heikel.

Nach dem Fall der Berliner Mauer habe sich das politische System Italiens zunehmend westlichen Demokratien angenähert. Doch dann kam Berlusconi. „Unter Berlusconi wurde die vierte Säule der Demokratie – die Medien – nachhaltig beschädigt. Diese gewährleisten den Bürgern Einblick in das Funktionieren der Demokratie sowie Kontrolle und öffentliche Rechenschaftspflicht. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar.“

So reich und so arm wie nie zuvor

Heute stehen wir auf der Schwelle eines epochalen Wandels, so Melandri: „Unsere gesamte Vorstellung von menschlicher Zivilisation verändert sich grundlegend. Neue Technologien und die Klimakrise fordern die seit Jahrhunderten bestehenden Beziehungen unseres Zusammenlebens mit dem Planeten heraus.“

Eine der dringendsten Herausforderungen sieht Melandri in der enormen Ungleichheit von Lebensstandard und Wohlstand. Nach Angaben des nationalen Statistikamtes lebte im vergangenen Jahr jeder zwölfte Mensch in Italien unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass sie nicht in der Lage sind, grundlegende Bedürfnisse wie Nahrung und Unterkunft zu decken. Die Armut wächst, auch global. Melandri erklärt: “Wir sind heute in unserer Lebenswirklichkeit – in Bezug auf Wohlstand, Komfort und Sicherheit – viel weiter entfernt von den Erfahrungen vieler anderer Menschen auf unserem Planeten, als es die  Aristokraten am Hof von Versailles 1788 von den Bauern waren, die schließlich mit Mistgabeln aufbegehrten. Diese krasse Kluft ist auf Dauer nicht tragfähig.”

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