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Geteilte Blicke
Armut betrifft die ganze Gesellschaft, nicht nur das Individuum

Felicitas Hillmann
Felicitas Hillmann | © Foto (Zuschnitt): Dagmar Morath

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Geteilte Blicke“ des Goethe-Instituts Italien treffen sich am 19. November Expert*innen zum Thema Armut aus Italien und Deutschland in Genua, um über verschiedene Aspekte der alten und neuen Armut in beiden Ländern zu diskutieren. Wir haben vorab mit der Migrationsforscherin Felicitas Hillmann gesprochen.

Von Christine Pawlata

„Armut ist schwer eindeutig zu definieren“, erklärt Felicitas Hillmann, die am Institut für Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin vor allem zu Migration und Integration forscht. „Armut bezieht sich nicht nur auf das Fehlen finanzieller Mittel, sondern auch auf andere Dimensionen wie den Zugang zu Bildung und Information, Gesundheit, soziale Netzwerke und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, zum Beispiel in der Kultur, in Sportvereinen oder in den Schulen.“

Jede siebte Person

Im Jahr 2023 waren rund zwölf Millionen Menschen in Deutschland armutsgefährdet, das entspricht etwa jeder siebten Person. Die neuen Armen, so Hillmann, sind weitgehend identisch mit den „alten“ Armutsgruppen: Alleinerziehende, insbesondere Frauen und ihre Kinder, Arbeitslose, Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung sowie Personen mit niedrigem Bildungs- und Qualifikationsniveau. „Bei Menschen mit Migrationshintergrund tritt Armut überproportional auf. Zudem haben nach der Corona-Pandemie viele Menschen nicht aus der dadurch ausgelösten Wirtschaftskrise zurückgefunden“, so Hillmann.

Ein Hinweis auf die Zunahme von Armut sieht Hillmann in der steigenden Nutzung von Tafeln – kostenlosen Essensausgaben für Bedürftige, die inzwischen 1,6 bis 2 Millionen Menschen in Deutschland in Anspruch nehmen. „Von 2022 bis Juni 2023 verzeichnen 90 Prozent der Tafeln mehr Geflüchtete aus der Ukraine, ein Drittel mehr Erwerbslose und auch ein Drittel mehr Erwerbstätige mit niedrigem Einkommen. Ebenso kommt ein Drittel mehr Rentner*innen zu den Tafeln.“

„Besonders die Armutsgefährdung von Rentnern und vor allem Rentnerinnen ist ein großes Thema, weil die geburtenstarken Jahrgänge, die sogenannten Boomer, ins Rentenalter kommen. Viele von ihnen, besonders Frauen, hatten keine konstanten Erwerbsverläufe, da sie in einen schwierigen Arbeitsmarkt eingetreten sind. Das wirkt sich nun im Rentenalter aus.“ Die steigenden Mieten seien ein weiterer Faktor, der zu mehr Armut führt.

Stigma

Das gesellschaftliche Stigma rund um Armut sei tief in der Gesellschaft verwurzelt: „Menschen in Armut werden oft als selbstverschuldet, faul oder unfähig dargestellt.“ Dies lenke jedoch von den strukturellen Bedingungen ab, die Armut begünstigen. „Diese negativen Stereotype führen dazu, dass arme Menschen sozial ausgegrenzt und diskriminiert werden, was ihre Situation zusätzlich verschärft. Viele Betroffene schämen sich für ihre Armut“, sagt die Wissenschaftlerin.

Hillmann, die auch in Italien geforscht und gelehrt hat, hat noch keine vergleichende Studie zur Migration in Italien durchgeführt – ihr Fokus liegt auf Migration, bei der Armut allerdings immer eine Rolle spielt. Ein erster Blick auf die Statistiken lässt sie jedoch vermuten, dass die Kluft zwischen der Armutsgefährdung von Migrant*innen und Einheimischen in Italien größer ist als in Deutschland. In Italien sind Migrant*innen etwa viermal häufiger von Armut betroffen als die einheimische Bevölkerung. Auch in Deutschland sind Migrant*innen stärker als die einheimische Bevölkerung von Armut betroffen, doch liegt hier die Armutsgefährdung von Migrant*innen „nur“ 2,6-mal so hoch wie bei der deutschen Bevölkerung.

„In Italien fällt besonders die prekäre Beschäftigung auf, etwa im Agrarsektor. Es gibt keinen Mindestlohn, gleichzeitig starke Einschränkungen im Aufenthaltsrecht, was vielfach zu Armut führen kann“, führt Hillmann aus.

Kinderarmut

„Armut ist immer ein gesamtgesellschaftliches Problem, da sie Folgekosten verursacht, die alle betreffen.“ Deshalb sei Prävention, also ein vorbeugender Sozialstaat, so wichtig. An erster Stelle sieht die Wissenschaftlerin die Bekämpfung von Kinderarmut und familiärer Armut. Fast drei Millionen Kinder in Deutschland sind armutsbedroht. Entscheidend sei der flächendeckende Zugang zu Bildung: „Wir brauchen eine gut ausgebildete Bevölkerung, um in Zukunft erfolgreich zu sein. Wenn wir der Kinderarmut nicht mit guter Schulbildung entgegenwirken, werden wir langfristige Probleme haben. Die Schulbildung beeinflusst direkt die beruflichen Chancen. Die Bekämpfung von Armut ist keine individuelle Frage, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe.“

Geld sei wichtig, aber nicht der alleinige entscheidende Faktor: „Noch viel entscheidender ist die Perspektive, die man hat und der Sinn, den man in dem findet, was man tut. Dies gibt eine Richtung vor, in die man sich entwickeln möchte. In Deutschland haben wir in den letzten Jahrzehnten einen großen sozialen Frieden erlebt, an den wir uns gewöhnt haben. Doch dieser Frieden ist nicht selbstverständlich, sondern etwas, wofür man aktiv eintreten muss.“

„Wir leben in unseren Sozialstaaten auf einem sehr hohen Niveau, was vielen Menschen oft als selbstverständlich erscheint. Manchmal wünsche ich mir, dass in der gesellschaftlichen Debatte mehr darauf eingegangen wird, welche Perspektiven wir Menschen anbieten können, anstatt sie auszugrenzen.“

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