Rund 5,7 Millionen Menschen in Italien leben in absoluter Armut, fast ein Zehntel der Gesamtbevölkerung. Auffallend bei diesen erschreckenden – und steigenden – Zahlen ist, dass vor allem Kinder betroffen sind und Armut auch im historisch reichen Norden des Landes stark zunimmt. Was hinter diesen Zahlen steckt und was „absolute Armut“ bedeutet, erklärt die Soziologin und Philosophin Chiara Saraceno, eine der einflussreichsten italienischen Wissenschaftler*innen im Bereich Armut, Ungleichheit und Sozialpolitik. Wir sprachen mit Saraceno im Rahmen der Veranstaltung „Leben als Ausgestoßene. Alte und neue Armut in Italien und Deutschland“ in Genua, wo sie mit der deutschen Migrationsforscherin Felicitas Hillmann und dem Journalisten Mario Marazziti zusammentraf.
Von Christine Pawlata
„Der Begriff ‚absolute Armut‘ bedeutet, dass man sich Güter, die in der jeweiligen Gesellschaft als notwendig gelten, nicht leisten kann. In den 1950er Jahren galt man in Italien natürlich nicht automatisch als arm, wenn man kein Telefon hatte. Heute hingegen ist man ohne Internetzugang sogar von der Möglichkeit ausgeschlossen, Arbeit zu finden“, sagt Chiara Saraceno.
Ausgegrenzt
In absoluter Armut zu leben, heißt nicht nur, Grundbedürfnisse wie Ernährung, Unterkunft, Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Bildung nicht decken zu können, sondern auch von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu sein, so die Soziologin. „Das bedeutet auch, dass man nicht nur benachteiligt wird, entwertet, mangelnd anerkannt und ausgegrenzt, sondern dass man sich auch dementsprechend wahrnimmt.“ Besonders schlimm sei das für Kinder: „Denn wenn ich nicht genug Bildung erhalte und keine Erfahrungen machen kann, die mich anregen und mir helfen, das zu entfalten, was in mir steckt, bedeutet das auch, in meiner Entwicklung eingeschränkt zu sein.“ Die heutige italienische Regierung, so die Soziologin, bestehe in ihrem Ansatz zur Armutsbekämpfung hauptsächlich darauf, dass mehr gearbeitet werden müsse. „In Italien leben jedoch 16 Prozent der Haushalte von Fabrikarbeiter*innen oder ähnlichen Berufsgruppen in absoluter Armut. Es reicht nicht immer, eine Arbeit zu haben, um der Armut zu entfliehen“, so Saraceno.
Working Poor
Einer der Gründe dafür, dass so viele Menschen in Italien in Armut leben, obwohl sie einen Job haben, sind die niedrigen Löhne. Tatsächlich sind die Löhne in Italien zwischen 1991 und 2023 um 3,41 Prozent gesunken. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum sind die Löhne in Deutschland um 30,39 Prozent gestiegen. Dazu kommt, dass in einer sehr hohen Zahl von Haushalten in Italien nur eine Person erwerbstätig ist. „Das ist meistens keine freie Entscheidung, weil man etwa wohlhabend ist oder nicht arbeiten möchte, sondern weil entweder die Arbeitsnachfrage nicht zu den Qualifikationen passt oder es vor allem Frauen mit Kindern betrifft und die familiäre Belastung zu hoch ist“, erklärt Saraceno. „Man kann die Leute nicht einfach dazu zwingen, arbeiten zu gehen. Man muss sie auch dazu in die Lage versetzen – mit den nötigen Qualifikationen und Unterstützungsangeboten, damit sie nicht durch zwei Jobs überlastet werden und damit die Vereinbarkeit von bezahlter Arbeit und Familienarbeit möglich wird.“
Überleben ohne soziale Mindestsicherung
Saraceno kritisiert das Abschaffen des „Reddito di Cittadinanza“ scharf. Der RdC war Italiens erste Form einer staatlichen Unterstützung zur Einkommenssicherung, vergleichbar mit Hartz IV in Deutschland. Die Grundsicherung wurde erst 2019 eingeführt, Anfang 2024 jedoch von der Regierung Meloni wieder abgeschafft. Maßnahmen zur Überbrückung von unzureichendem Einkommen seien zwar nicht das einzige Mittel zur Armutsbekämpfung, aber überlebensnotwendig: „Im Laufe des Lebens kann es passieren, dass jemand aufgrund von Krankheit oder den Bedingungen des Arbeitsmarkts nicht genug verdient“, so die Soziologin. Im Idealfall gehe es dabei um zeitlich begrenzte Maßnahmen, die den Menschen helfen sollen, selbstständig aus der Armut zu entkommen: „Einkommensunterstützung ist eine Form der Selbstermächtigung, weil sie die Leute nicht dazu zwingt, sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten, sondern es ihnen ermöglicht, in ihre Ausbildung zu investieren, nach einer guten Arbeitsstelle zu suchen und sich nicht gedemütigt zu fühlen, dass ihnen die Mittel fehlen, sich selbst und ihre Familie zu versorgen.“
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