Ein Gespräch mit Francesca Melandri
Von Südtirol über Berlin bis Gujarat
Francesca Melandri debütierte in Italien 2010 mit dem Roman Eva dorme. Es folgten Più alto del mare und Sangue giusto. Zusammen bilden sie die Trilogie der Väter. In Deutschland erscheinen Melandris Bücher im Wagenbach Verlag, dem Verlag für italienische Literatur in Deutschland, bekannt für sein Engagement.
Von Giulia Mirandola
Eva dorme | Francesca Melandri
| Buchcover © Mondadori 2010
Alle, außer mir (Wagenbach 2018) stand zehn Wochen lang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Während des weltweiten Corona-Ausnahmezustands im März 2020 bat die französische Tageszeitung Libération Francesca Melandri um einen Artikel über die Pandemie, und sie antwortete mit Lettera dal futuro (Ich schreibe euch aus eurer Zukunft), einem Text, der auch von Spiegel und Guardian abgedruckt wurde und anschließend, in mehr als dreißig Sprachen übersetzt, um die Welt ging.
Welche Beziehung haben Sie zur deutschen Sprache beziehungsweise zu Deutschland und zur Literatur im deutschsprachigen, donauländischen und mitteleuropäischen Raum?
Ich spreche nicht besonders gut Deutsch und lese es mit etwas Mühe, aber meine beiden Kinder sind zweisprachig, sie haben einen deutschsprachigen Vater, deshalb gehört Deutsch zu unserem Familienlexikon. Zu Deutschland habe ich eine private Beziehung, meine Kinder leben mittlerweile hier, und für mich ist es normal zwischen Rom, Berlin und München zu pendeln. In Italien hat sich meine Generation an der deutschen und österreichischen Literatur herangebildet: Joseph Roth, Heinrich Böll, Günter Grass, um ein paar Beispiele zu nennen. Sie und viele weitere Autorinnen und Autoren waren eine Zeitlang zentral, und die Kulturlandschaft, zu der sie gehörten, durchdrang die italienische. Ich habe allerdings den Eindruck, dass seit dem Mauerfall die zeitgenössische deutschsprachige Literatur für italienische Leser weniger relevant ist, und ich habe mich oft gefragt, warum, warum dieser Bedeutungsverlust. Ich habe diese Frage vielen Menschen in Italien und Deutschland gestellt. Manche meinen, es liege daran, dass nur wenige Lektoren in italienischen Verlagen solide Deutschkenntnisse haben, andere vermuten, dass die deutsche Erzählliteratur in den letzten Jahrzehnten weniger in der Lage war, eine universelle Stimme zu finden. Aber ich bin nicht sicher, ob das die tatsächlichen oder die einzigen Erklärungen sind.
Im Herbst 2019 waren Sie Hausgast im Literarischen Colloquium Berlin, einer sehr bedeutenden Kulturinstitution im Bereich der europäischen und außereuropäischen Literatur. Welche Erfahrungen haben Sie während des Residenzprogramms gemacht?
Più in alto del mare | Francesca Melandri
| Buchcover © Rizzoli 2012
Im September 2019 wurde ich eingeladen, einen Monat an diesem herrlichen Ort am Ufer des Großen Wannsees zu verbringen. Es ist ein wundervoller Ort zum Arbeiten. Vom Schreibtisch in meinem Zimmer sah ich die Boote vorbeiziehen. Das Literarische Colloquium Berlin (LCB) ist ein kulturelles Projekt, das Autorinnen und Autoren sowie Übersetzerinnen und Übersetzer aus der ganzen Welt aufnimmt und ihnen ermöglicht, für eine gewisse Zeit zusammenzuleben, in einem Klima stetigen Austauschs und Dialogs. In Zeiten, in denen wir Europa aufbauen, finde ich das besonders wichtig. Im Juli 2020 hätte ich erneut Hausgast im LCB sein sollen, doch wegen der Pandemie musste der Aufenthalt verschoben werden.
Was ist die Arbeit von Übersetzerinnen und Übersetzer? Was bedeutet „übersetzen“?
Was mich betrifft, ist Übersetzung ein wichtiges Thema. Ich betrachte Übersetzerinnen und Übersetzer als eine andere Art von Autorinnen und Autoren. Meine Mutter, Caterina Minoli, hat viele Klassiker der angloamerikanischen Literatur wie Moby Dick oder Tristram Shandy ins Italienische übersetzt. Als ich aufwuchs, reiste sie am Schreibtisch mit ihrer Olivetti zwischen den Sprachen und den Literaturen hin und her. Schreiben und übersetzen sind Erfahrungen, die miteinander verbunden sind. Als man mich dann selbst in andere Sprachen “übergesetzt” hat – in die vielen Sprachen, in die ich übersetzt wurde – habe ich das zu schätzen gewusst und noch mehr Respekt für die Arbeit meiner Mutter und aller Übersetzer verspürt. Wie Olga Tokarczuk sagt, sind Übersetzer kulturelle Brückenbauer. Es liegt an den Übersetzerinnen und Übersetzern, dass wir uns Teil einer einzigen Menschheit fühlen können und nicht jeder nur in seine eigene, begrenzte Sprachblase verbannt ist. Wenn wir uns alle einer einzigen menschlichen Spezies zugehörig fühlen, verdanken wir das auch, wenn nicht in erster Linie, ihnen.
In Deutschland erscheinen alle Ihre Romane im Programm des unabhängigen Berliner Wagenbach Verlags. Der Verlagsgründer Klaus Wagenbach ist für sein Charisma und sein kulturpolitisches Engagement bekannt. Sind Sie ihm je persönlich begegnet?
Ich habe ihn kennengelernt und bin inzwischen mit seiner Frau Susanne Schüssler befreundet, die seit 2002 den Verlag leitet. Meine ersten beiden Romane Eva schläft (Wagenbach 2019) und Über Meereshöhe (Wagenbach 2019) waren auf Deutsch zunächst im Blessing Verlag erschienen. Als in Italien Sangue giusto (Alle, außer mir, Wagenbach 2018) erschienen war, schrieb Susanne Schüssler mir persönlich, weil sie Interesse hatte, es übersetzen zu lassen und zu publizieren, und sie hat sich entschieden, auch die beiden Vorgängerromane wieder aufzulegen. Jetzt ist die „Trilogie der Väter“ in Deutschland in ein und demselben Verlagsprogramm wiedervereinigt, was mich sehr freut. Ich habe das Gefühl, im Wagenbach Verlag mein verlegerisches „Zuhause“ in Deutschland gefunden zu haben. Für mich ist es eine große Ehre, weil Wagenbach der Verlag für italienische Literatur in Deutschland ist und sich schon immer durch sein Engagement im kulturellen wie auch im außerliterarischen Bereich auszeichnet.
Was verbindet die deutsche Vorstellungswelt mit derjenigen, aus der Ihre Geschichten stammen?
Sangue giusto | Francesca Melandri
| Buchcover © Rizzoli 2017
Italien gehört seit Jahrhunderten zur deutschen Vorstellungswelt, seit Goethes Italienischer Reise, im Guten wie im Schlechten, inklusive aller Stereotype. Außerdem gibt es eine enge historische Verbindung: Italien und Deutschland waren die letzten, die zu Nationalstaaten wurden, das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch waren die beiden Länder stark verbunden, wieder im Schlechten wie im Guten, von den beiden Weltkriegen bis zum gemeinsamen Engagement für ein Vereintes Europa. Über Meereshöhe spielt 1979, während der „bleiernen Jahre“, diese Erfahrung findet ein ebenso tragisches und komplexes Echo in derjenigen der RAF. Ich habe viele Zuschriften von deutschen Leserinnen und Lesern erhalten, die von den Siebziger Jahren in Deutschland erzählen. Auch derzeit, in diesem empfindlichen Moment des gesundheitlichen Ausnahmezustands beäugen Deutschland und Italien sich gegenseitig, ziehen einander an, suchen, missverstehen, lieben und hassen einander. Ich hoffe, dass ich die deutsche Leserschaft mit meinen Büchern in ein Italien führe, das die Stereotype aufbricht und überwindet. Das sollte ein Roman können: den Leser etwas näher an dieses komplexe, aber wirkliche Wirrwarr heranrücken, das die Realität ausmacht.
Wo treffen Ihr Schreiben, die historischen Fakten und die Lebensgeschichten, von denen Sie erzählen, zusammen?
Alle, außer mir (Sangue giusto) von Francesca Melandri | Übersetzung von Esther Hansen, Wagenbach 2018
| Buchcover © Wagenbach 2018
Bis jetzt hat mich das Verfassen von Romanen immer dazu gebracht, eine gewisse Zeit an den Orten zu verbringen, an denen meine Geschichten spielen, aber vor allem ist es für mich wesentlich, sehr vielen Zeitzeugen zuzuhören. Während des Schreibprozesses mache ich mich auf die Suche nach persönlichen, privaten Erzählungen, nach Momenten lebendigen oder gelebten Lebens. Ich brauche sehr viele verschiedene Stimmen, und dieser Prozess endet erst kurz vor Fertigstellung der ersten Fassung. Schreiben und Materialsammeln erfolgen gleichzeitig. Der abgeschlossene Roman ist nur die Spitze dieses Eisbergs aus Berichten und Informationen, von denen der größte Teil unter der Wasseroberfläche bleibt. Sie alle sind aber grundlegend, damit ich das Gefühl habe, dem Text Tiefe und Substanz geben zu können. Auch was im Roman außen vor, unsichtbar bleibt, hat dennoch daran teil, es ist unsichtbar, muss aber irgendwie beim Leser ankommen, als ein einziges erzählerisches, philosophisches und emotionales Universum.
Was stellt Alexander Langer, seine Bewegung, seine Gedanken, seine Vision heute für Sie dar?
Ich betrachte Alexander Langer als einen meiner inneren Lehrer, als einen Menschen, der seiner Zeit sehr weit voraus war und deshalb häufig missverstanden wurde. Ein Visionär, der aus der Zukunft kam. Mein erster Roman, Eva schläft, spielt in Südtirol, und Langer war der erste Mensch in dieser Region, und später in Europa, der aus der Überwindung der Idenitätsgegensätze ein Element von europäischer Tragweite machte. Während ich den Roman schrieb, habe ich all seine Schriften gelesen, um ihm nahe zu sein. Es gibt in Eva schläft eine Passage, in dem ich ihn beschreibe, aber ich nenne ihn nicht explizit. Nach seinem Tod haben viele große Reden über ihn geschwungen, und ich wollte mich da nicht einreihen. Deshalb wollte ich Eva schläft auch nicht explizit ihm widmen. Aber ich habe auszudrücken versucht, was ich hoffe von seiner Vision und seinen Gefühlen verstanden zu haben, auf implizite, aber organische Art, im Inneren des Romans selbst.
Was hat Sie dazu gebracht, den Text Ich schreibe euch aus eurer Zukunft zu verfassen?
ch habe ihn geschrieben, weil die französische Tageszeitung Libération mich damit beauftragt hatte, als die Franzosen kurz vor dem Lockdown waren. Nicht, dass ich gedacht hätte, es wäre wichtig, das zu tun – ob ein Text wichtig ist oder nicht, entscheidet, wer ihn liest, nicht, wer ihn schreibt. Inzwischen ist er in zweiunddreißig Sprachen übersetzt, darunter Gujarati, Armenisch, Afrikaans … Ich bekomme weiterhin Zuschriften von Menschen, die all diese Sprachen sprechen. Ich glaube, der Grund für diese globale Resonanz ist, dass ich in dem Text von Dingen spreche, die im Grunde sehr einfach sind, universelle menschliche Erfahrungen, mit denen sich Menschen identifizieren konnten, die geografisch sehr weit voneinander entfernt sind: von Soweto bis Estland, von Kalkutta bis Korea. Dass mein „Brief“ viral gegangen ist, hat mich direkt mit der aus meiner Sicht wesentlichen Charakteristik von Covid-19 in Berührung gebracht: nämlich mit der Tatsache, dass diese Erfahrung alle Bewohner unseres Planeten verbindet. Das ist unserer Generation vorher noch nie passiert.
Die Buchhandlung Dante Connection empfiehlt Francesca Melandri
| © Goethe-Institut Italien | Foto: Giulia Mirandola
Kommentare
Kommentieren