Literaturmagazine in Deutschland
Die neue Vielfalt
Sie sind die Forschungslabore des Literaturbetriebs: Magazine präsentieren neue Stimmen, geben Raum für Experimente, testen Formate aus. Aktuell ist die Vielfalt so groß wie nie.
Von Fabian Thomas
Eine Geschichte der Literaturmagazine in Deutschland der letzten fünfzig Jahren käme kaum ohne große Namen wie Akzente, Sinn und Form und Die Horen aus. Alle vor rund 70 Jahren gegründet, haben viele der großen Schriftsteller*innen der letzten Jahrzehnte hier ihre Texte veröffentlicht, von Lyrik und Prosa bis hin zu politischen Essays. Großes Renommee genießen inzwischen auch die in der Nähe der Schreibschulen von Hildesheim und Leipzig angesiedelten BELLA triste und Edit, die es durch regelmäßigen Wandel in Konzeption und Layout geschafft haben, weiterhin spannend und tonangebend zu bleiben.
Doch es gibt auch eine deutlich jüngere Szene mit einer ganzen Bandbreite von Publikationen. Ein Blick in diese vielfältige Welt der jungen Literaturmagazine führt in ganz andere Welten als ihre etablierten Vorgänger. Inhaltlich halten sie einige Überraschungen bereit, wie etwa das Magazin Kapsel, das sich gänzlich auf chinesische Science-Fiction spezialisiert hat. „Was uns an den Geschichten aus China so gut gefällt, sind der Einfallsreichtum, der Optimismus und die kraftvollen Bilder und Visionen gerade der jungen Autor*innen“, beschreibt Lukas Dubro, einer der Gründer, die Idee hinter Kapsel. Bunt gestaltet kommt die aktuelle Ausgabe Träume daher, in der die Texte chinesischer Autor*innen denen ihrer deutschen Kolleg*innen gegenüberstellt sind.
Diversität wird sichtbarer
Den Fokus auf Vielfalt legt Yasemin Altınay in ihrem Magazin Literarische Diverse, dessen dritte Ausgabe Ende 2020 mit dem Motto „Widerstand“ erschienen ist. Es versammelt sowohl Texte von Schwarzen, Indigenen und People of Colour (BIPoC) als auch LGBTQI+-Stimmen, und die schiere Menge verblüfft: Auffällig viele Gedichte sind dabei, ein Interview mit der Autorin und Journalistin Sibel Schick über Solidarität, und dazwischen gestreut immer wieder Fotos von Black-Lives-Matter-Demonstrationen aus dem vergangenen Jahr. Die im besten Sinne umtriebige Herausgeberin beschränkt sich inzwischen nicht mehr allein auf ihr Magazin: 2019 hat sie einen eigenen Buchverlag gegründet, ein erster Lyrikband ist bereits erschienen.
Texte von migrantischen und LGBTQI+-Stimmen veröffentlicht die „Literarische Diverse“ der Herausgeberin Yasemin Altınay, die unter selbem Namen 2019 auch einen Buchverlag gegründet hat.
| Foto (Detail): © Literarische Diverse Verlag
Einen ähnlichen Fokus wie Literarische Diverse hat das Magazin Glitter, dessen besonderer Schwerpunkt auf queeren Autor*innen liegt. „Schwarze Autor*innen, People of Colour, Frauen* oder Queers schreiben nicht gut genug, um im Feuilleton besprochen, um mit Förderbeiträgen und Preisen ausgezeichnet zu werden?“, fragen die Herausgeber*innen provokant im Editorial, um im Folgenden den Gegenbeweis anzutreten: Wie auch bei Literarische Diverse ist das Heft voll mit Beiträgen, die Gedichte, Romanauszüge und kurze Dramenfragmente umfassen.
Aber auch Magazine, die sich auf einzelne Literaturgattungen spezialisiert haben, finden sich im aktuellen Sortiment: Wie etwa das auf zeitgenössische Lyrik spezialisierte Transistor-Magazin, das bereits in der vierten Ausgabe vorliegt. Wurden im handlichen Kleinformat zuvor Themenfelder wie Lyrikkritik und digitale Dichtung abgesteckt, dreht sich im neuesten Heft alles um die 2020 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete Lyrikerin Elke Erb, auf deren Gedichte in den einzelnen Beiträgen bekannte Autor*innen wie Ulf Stolterfoht, Olga Martynova und Jan Kuhlbrodt antworten, aber auch junge Stimmen wie Alke Stachler, Rike Scheffler und Hannah Schraven.
Training für Literatur-Athlet*innen
Literatur als schwere Kost? Auf überraschende Weise interpretiert dieses Bild das Magazin GYM neu, das sich den Untertitel „Heft für Literatur als Kraftsport“ gegeben hat. Und genau das wird hier geliefert: Die zweite Ausgabe versammelt Gedichte und Prosa, die von körperlicher Arbeit handeln, wie sie etwa Frauen in der Familie oft unbeachtet verrichten; von Bewerbungsgesprächen, in denen Leistung, Wettbewerb und Ellbogentaktik gefragt sind; von Vätern, die merken, dass zwischen ihren Lebensrealitäten und denen ihrer Kinder ganze Welten liegen. „Wir verstehen uns als Trainingspartner*innen für Athlet*innen der Literatur“, so die Herausgeber*innen. „Die gemeinsame Arbeit am Text ist für uns weniger eine Masse – als vielmehr eine spannende, produktive und bereichernde Definitionsphase. Das GYM ist ein im besten Sinne demokratischer Ort, dabei aber niemals beliebig.“
Fast übersehen könnte man schließlich das ungewöhnlich schlicht gestaltete Honich, das sich, unter Verzicht auf jegliche Covergestaltung, schwarz auf weiß „Magazin für literarische Texte“ nennt. Für die dritte Ausgabe haben die Herausgeber*innen aus der Bescheidenheit eine Tugend gemacht und Autor*innen gebeten, ausschließlich ihre zweitbesten Texte einzusenden. So ermöglicht dieses Heft einen Blick in die Schubladen der Autor*innen, rückt Texte in den Blick, die eigentlich schon verworfen, abgelegt und aussortiert waren: Die ungeordneten Gedanken einer jungen Frau beim Einkauf im Drogeriemarkt und beim Fernsehen. Assoziative Reflexionen über das Gefühl, an einem Karfreitag geboren zu sein. Ein explizites Gedicht über Körperflüssigkeiten, Selbstverletzung und Geschlechtsverkehr. Und eine Fotostrecke mit schief angeschnittenen Alltagsimpressionen – natürlich in schwarz-weiß.
Das schlicht in schwarz und weiß gestaltete „Honich“-Magazin wartete kürzlich mit einer besonderen Idee auf: In der dritten Ausgabe wurden Autor*innen gebeten, ausschließlich ihre zweitbesten Texte einzusenden.
| Foto (Detail): © Honich
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