Interview mit Jan von Holleben
Die Magie der Wirklichkeit
Es ist etwas im Gange in der Kinder- und Jugendliteratur: Verlage und Publikum entdecken mehr und mehr das Fotobuch. Die unabhängige Buchhandlung Spazio B**K in Mailand hat dem Genre eine internationale Vortragsreihe mit dem Titel Quattro passi nei libri fotografici per l’infanzia (Ausflug in die Welt des Fotobuchs für Kinder) gewidmet. Zu jeder der Veranstaltungen waren Wissenschaftler*innen, die sich mit visueller Literatur beschäftigen, Fotograf*innen, Autor*innen und Buchhändler*innen geladen, darunter auch der deutsche Fotograf Jan von Holleben, der sich auf die Beziehung zwischen Fotografie, Spiel und Wirklichkeit spezialisiert hat.
Von Giulia Mirandola
Was ist ein Fotobuch? Was bedeutet es, Autor von Fotobüchern zu sein?
Ich arbeite seit langem schon für Zeitungen und Magazine mit Kindern und Fotografie, insbesondere zu wissenschaftlichen Themen. Es handelt sich um kleine Geschichten zu einem bestimmten Thema. 2012 kam ein Verlag auf mich zu und fragte: „Könntest du dasselbe in einem ganzen Buch machen?“ Das war der Beginn meiner Sachbuchprojekte für Kinder. Die Lektorin des Thienemann-Esslinger Verlags fragte mich: „Welches Buch wolltest du schon immer machen?“, und so entstand Kriegen das eigentlich alle?, ein Buch über die Pubertät, das ein großer Erfolg war und gerade in einer neuen und komplett überarbeiteten Ausgabe herauskommt. Aufgrund des damaligen gigantischen Medienechos verstanden wir, dass erzählende Fotografie im Kindersachbuch funktioniert, und beschlossen, ein zweites Buch zu machen, ein drittes, ein viertes … In zehn Jahren wurden es acht gemeinsame Projekte, nicht mehr nur Sachbücher. Meine letzten drei Bücher habe ich mit dem Beltz Verlag veröffentlicht, das sind kreative und pädagogische Bücher, bei deren Gestaltung ich extreme Freiheit genoss und die mir sehr viel Spaß gemacht haben.
Woher kommt deine Leidenschaft für die Fotografie?
Mein Vater war Kameramann und zu seiner Ausbildung gehörte auch die Fotografie. Er hat viel mit analoger Fotografie experimentiert und im Fotostudio mit Tricks gearbeitet, zum Beispiel Doppelbelichtungen, Repro-Fotografie, das hat mich immer fasziniert. Als ich dreizehn wurde, hat mir meine Mutter meinen ersten Fotoapparat geschenkt, und seitdem habe ich immer fotografiert. Für mich ist es etwas, was mich interessiert, aber vor allem eine Form des Spiels. Zur selben Zeit habe ich begonnen, Fotobücher zu lesen, wiederum meine Mutter schenkte mir Zeig Mal! von der Psychoanalytikerin Helga Fleischhauer-Hardt und dem Fotografen Will McBride, das 1974 in Deutschland erschien. Dieses Buch hat mich sehr beeindruckt. Ein weiteres Kinderbuch, das ich liebte, war Mein Esel Benjamin von Hans Limmer, mit Fotografien von Lennart Osbeck.
Wie sieht dein Studio aus?
Mein Studio ist sehr bunt. Es ist wie ein großes Spielzimmer, wo ich meine Lieblingsspielsachen aufbewahre: Das sind allerlei Alltagsgegenstände. Aktuell habe ich drei-vier verschiedene Aufbauten. Ich arbeite mit dem, was ich um mich herum vorfinde: Seile, bunte Strohhälme, Spielsachen, Klamotten, Haushaltsgegenstände... Ich suche nicht nach künstlichen Spezialeffekten. Die Spezialeffekte sollen nach der Betrachtung meiner Bilder in unseren Köpfen passieren. Ich will damit das Denken anregen und die Leser visuell herausfordern. Deshalb ist mein Studio voller Dinge, gut sortiert und in Hunderten von Schachteln verstaut, die meine Assistentin und ich in Ordnung zu halten versuchen.
Wie arbeitest du mit den Kindern?
Ich habe ursprünglich Pädagogik studiert, es ist mir wichtig, mit Kindern zu arbeiten. Ich betrachte sie nicht als Models. Sie sind in jeder Hinsicht Spielkameraden. Meine Rolle ist es, das Spiel zu leiten, aber sie kennen die Regeln und nehmen aktiv am Spiel teil, sie wissen, was das Ziel ist, welche Schwierigkeiten es gibt, welche Mittel, sie bringen ihre Ideen ein, treffen Entscheidungen, es ist ein gemeinschaftliches Spiel.
Wer hat deine Art, mit Fotografie zu erzählen, geprägt?
Ich glaube, dass mich die Literatur beeinflusst hat, die ich als Kind gelesen habe: Peter Härtling, Astrid Lindgren, Eric Carle. In der Fotografie Annie Leibovitz, Peter Lindbergh. Ich denke auch, dass meiner Vorstellungswelt einige Figuren der Kinderliteratur zugrunde liegen, darunter Robin Hood, Pippi Langstrumpf, Tarzan.
Das Buch „Meine wilde Wut“ entstand in Zusammenarbeit mit einem Psychologen, Arne-Jörgen Kjossbakken. Kannst du uns erzählen, wie ihr gearbeitet habt?
Wir wollten ein Buch mit wütenden Kindern für wütende Kinder machen. Es gibt immer einen guten Grund, warum ein Kind wütend ist. Einem wütenden Kind sagt man oft „Beruhige dich“, „Komm runter“, „Reg dich nicht so auf“. Aber mit der Wut kommuniziert das Kind immer etwas, für das es in dem Moment keine Worte hat. Auch in diesem Fall hat uns der Verlag völlig freie Hand gelassen.
Was reizt dich an diesen „silent books“?
Kinder verstehen viel schneller durch Bilder. Mein erstes Buch ganz ohne Worte heißt Alles immer (Beltz & Gelberg, 2019). In diesem Buch kann man von einem Bild zum nächsten springen, es handelt sich zu Teil um Bilder, die ich in den letzten 20 Jahren gemacht habe, zum Teil um neue Bilder, die von Lieblingsbildern der Kinder inspiriert sind, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin. Auch in diesem Fall habe ich mit den Kindern zusammengearbeitet, auf Augenhöhe, anarchisch, wir haben Geschichten ohne Anfang und ohne Ende erfunden, man kann das Buch anfangen, wo man will, es von allen Seiten lesen und am Ende wieder von vorne anfangen.
An welchem neuen Buch arbeitest du aktuell?
Es heißt The Blueberry Machine und wird im Verlag Little Steidl erscheinen, mit dem ich bereits Kosmos veröffentlicht habe. Das Projekt begann 2014, 2015 habe ich die Bilder fotografiert, in den letzten drei Jahren haben wir an den Texten gearbeitet, und jetzt wird das Buch endlich erscheinen. Die Hauptfigur ist ein norwegischer 4 Jähriger Junge, mit dem ich oft gewandert bin, ich habe bei seiner Familie gelebt, bin von den Geschichten ausgegangen, die er mir erzählt hat, und habe sie mit denen vermischt, die in meiner Vorstellung Form angenommen haben. Es gibt viele fantastische Maschinen in dieser Geschichte. Ich bin fasziniert von Maschinen. Mehr als als Künstler fühle ich mich als Erfinder, einen, der experimentiert und findet.
Jan Von Holleben
Jan von Holleben wurde 1977 in Süddeutschland geboren. Seine Leidenschaft für die Fotografie entwickelt er bereits in der Kindheit. Er nutzt die Fotografie für eine visuelle Kommunikation zu 360° und ist Dozent für Theorie und Technik der Fotografie. Einen Bereich seiner Tätigkeit bilden Fotobücher für Kinder und Jugendliche. Er hat mehr als 20 Bücher veröffentlicht, die in mehr als 16 Sprachen übersetzt wurden, eines auch auf Italienisch unter dem Titel La baraonda di Corradino (L’Ippocampo, 2015). Sein Fotostudio in Berlin ist eine wahre Wunderkammer voller Hinweise auf seine Art, fotografisch zu denken und zu erzählen, aber auch auf seinen Bezug zur Fotoliteratur. Sehr präsent stehen da die Fotobücher, die der Autor seit seiner Jugend gelesen hat und die heute die Eckpfeiler seiner Bibliothek bilden, zugleich ein Arbeitsmaterial, mit dem er sich täglich auseinandersetzt.
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