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Der Ent-Zauber-Berg von Paolo Cognetti
Unten im Tal

Paolo Cognetti
Foto (Zuschnitt): © Mattia Balsamini

Der neuste Roman von Paolo Cognetti „Giù nella valle“ (Einaudi, 2023) erschien nun in der deutschen Übersetzung von Christiane Burkhardt bei Penguin mit dem Titel „Unten im Tal“. Er ist anders als seine Vorgänger. Gewalt, Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, Familienkonflikte: Wieso haben die Berge ihren Zauber verloren?

Von Gabriele Magro

„Warum bleiben Berge (…) in der Literatur eines Landes, das sich des gesamten Alpenbogens rühmen kann, alles in allem außen vor?“, fragte sich der italienische Literaturkritiker und -historiker Franco Brevini in einem Aufsatz aus dem Jahr 2013.

Wenige Jahre später schien der außergewöhnliche Erfolg von Le otto montagne (Einaudi, 2016) von Paolo Cognetti diese Lücke zumindest teilweise zu schließen. Le otto montagne (dt. Titel: Acht Berge) war das erste Buch seines „Bergzyklus“, gefolgt von Senza mai arrivare in cima (2018; dt. Titel: Gehen, ohne je den Gipfel zu besteigen), La felicità del lupo (2021; dt. Titel: Das Glück des Wolfes) und zuletzt nun Giù nella valle (Einaudi, 2023), das 2024 in der deutschen Übersetzung von Christiane Burkhardt (Unten im Tal) bei Penguin erschienen ist. Die ersten drei Werke des Zyklus richten den Blick nach oben und nehmen die Leser*innen mit auf einen Aufstieg zu den Gipfeln, der passagenweise von einem gewissen Eskapismus getrieben wird. Anders hingegen Unten im Tal. Wie der Titel bereits verrät, geht es diesmal nicht um einen Auf-, sondern um einen Abstieg. Luigi und Alfredo sind Brüder und treffen sich zum ersten Mal seit dem Selbstmord ihres Vaters wieder, um ihr Erbe aufzuteilen: eine alte Hütte in einem unbewohnten Dorf am Fuße des Monte Rosa. Alfredo ist gewalttätig und unberechenbar. Luigi ist entschlossen, ihm seine Hälfte abzukaufen, und verschweigt daher, dass der Wert der Hütte durch den Bau eines Sessellifts unmittelbar daneben steigen wird.

Der Tod ist im Roman unterschwellig stets präsent. Gleichzeitig werden Themen wie soziale und wirtschaftliche Probleme sowie Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, die in vielen Gebieten in den Alpen den Alltag prägen, mit einer Klarheit verhandelt, die in Cognettis Werk bisher nicht zu finden war.

„Wir haben uns das ausgedacht“

Das zentrale Thema des Romans ist Gewalt. Es geht um die Gewalt von Menschen gegenüber anderen Menschen (die Geschichte endet mit einem Mordversuch) und die Gewalt von Menschen gegenüber sich selbst: mit dem Selbstmord des Vaters, der auf das Leben der beiden Brüder ebenso einen Schatten wirft, wie der Gipfel des Monte Rosa auf das Tal. Aber vor allem geht es um die Gewalt von Menschen gegen die Natur: mit einer Landschaft, die verschmutzt, anthropomorphisiert und schließlich verlassen wird, und mit dem Bau eines Sessellifts für den Massentourismus – für den allerdings erstmal fünftausend Bäume gefällt werden müssen. „Aber der Mensch fällt seit jeher Bäume, züchtet Vieh, schlägt sich gegenseitig den Schädel ein und vieles mehr. Wenn es auf der Welt etwas Böses gibt, haben wir es uns ausgedacht“, meint Luigi, die Hauptfigur des Romans.

Im Übrigen begegnen wir auch auf dem berühmtesten Abstieg aus den Bergen der deutschen Literatur Gewalt: Jener von Hans Castorp, Hauptfigur im Roman Der Zauberberg, der Thomas Mann im Jahr 1924 in den Rang eines der bedeutendsten Schriftsteller der Weltliteratur hebt. Am Ende des Romans verlässt Hans das Sanatorium, in dem er sieben Jahre lang über Politik und Philosophie diskutiert hat, um sich im Ersten Weltkrieg freiwillig als Soldat zu verpflichten. Auch in diesem Fall bedeutet der Abstieg ins Tal die Entscheidung für die Begegnung mit der Gewalt der Gegenwart und den Verzicht auf den Zauber des Bergs als romantisches Symbol für eine Zeit, die stillsteht.

Der Berg als ein „anderer“ Ort, an dem man dem „Bösen auf Erden“ entkommen kann, ist auch der Traum von Giuanin. Er fragt in Il Sergente nella neve (dt. Titel Alpini im russischen Schnee) von Mario Rigoni Stern den Autor immer und immer wieder: „Unteroffizier, kommen wir bis zur Hütte?“ und damit „Kommen wir zurück nachhause?“. Denn Zuhause, das ist die Hütte, das sind die Alpen, das ist der Frieden.

Rigoni Stern ist einer der literarischen Väter von Cognetti. Cognetti hat seine Werke mehrfach öffentlich gelesen, zitiert und analysiert. Und er hat eine gelungene Einleitung zu seiner Kurzgeschichtensammlung Il bosco degli urogalli (dt. Titel Füchse unter Sternen) in der Ausgabe von Einaudi aus dem Jahr 2022 verfasst. Darin schreibt er: „Mario mochte das Wort Natur nicht, ihm gefielen das Wort bosco (Wald) und das zugehörige Adjektiv selvatico (wild) mehr. Einmal änderte er es in salvatico, wie bei Dante, um zu erklären, was der Wald für ihn war, nämlich „un salvatico che diventica salvifico, che conduce alla salvezza“ (wörtlich: „ein Wilder, der zu einem Heilsbringer wird, der zum Heil führt“). „Was ist ein Gebet für Sie?“, fragten sie ihn. „Allein im Wald zu sein“, antwortete er.

Der widerständige Wald

Die diesjährige Juniausgabe des literarischen Reisemagazins The Passenger von Iperborea ist dem Thema Alpen gewidmet. Gleich im ersten Text der Ausgabe räumt Marco Albino Ferrari mit dem Vorurteil auf, dass die Alpen die europäischen Völker wie eine Barriere voneinander trennen und zeigt auf, dass die Alpen vielmehr ein Raum sind, in dem sich die Völker relativ frei vom Druck der Nationalstaaten und deren ideologischen und wirtschaftlichen Interessen begegnen und vermischen konnten. Ferrari schreibt: „Die Okzitaner, die Frankoprovenzalen, die Walser, die Fersentaler, die Zimbern, die Friauler … Sie sind die ‚anderen aus den Alpen‘, die ihre Eigenheiten und Unterschiede im Laufe der Jahrhunderte gerade aufgrund der durch die Berge gegebenen Abgeschiedenheit bewahrt haben.“ Im Nachwort zu seinem Roman beschreibt Cognetti das Valsesia, wo die Handlung spielt, als Land von Verfolgten auf der Flucht und erwähnt neben den Walsern auch die häretischen Dolcinianer und die Partisanen des italienischen Widerstands.

In diesem Buch ist es der Wald (in den Rigoni Stern seine Hoffnung auf Heilsbringung legte), der Widerstand leistet. Unten im Tal schließt mit einer Neufassung eines langen keltischen Gedichts, Die Schlacht der Bäume, in dem Kastanie, Buche und Lärche als verfolgte Partisanen zu den Waffen greifen und gegen diejenigen kämpfen, die sie fällen wollen.

In seinen vorherigen Romanen scheint der Autor die Berge als einen Ort jenseits der Realität zu betrachten, als einen Raum, in den man sich vor der Gegenwart flüchten kann. In seinem neuen Werk scheint es hingegen klar, dass es keine Hütte mehr gibt, zu der man zurückkehren kann, und dass die Umweltverschmutzung und der Massentourismus den „Zustand der Abgeschiedenheit“, von dem Marco Albino Ferrari spricht, verunmöglichen. Die Gewalt der Gegenwart, samt den enormen Herausforderungen des Klimawandels und der Abwanderung, hat die Berge erreicht und dieses Mal ist der Autor bereit, sich ihr zu stellen und sie als das zu sehen was sie ist. Der Roman schließt mit einer poetischen Erklärung des Ich-Erzählers aus Die Schlacht der Bäume: „Ich kämpfte, Ihr Bäume, in Euren Reihen.“

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