Sprechstunde – die Sprachkolumne
Mitsingen, ohne den Text zu kennen
Wovon singen die da eigentlich? Thomas Böhm gibt zu, dass er bei Popsongs nicht immer jedes Wort versteht. Wenn er dann das Internet befragt, worum es geht, ist er manchmal ziemlich beunruhigt. Und manchmal sehr glücklich über den Gewinn an poetischen Wörtern.
Von Thomas Böhm
Seit ich angefangen habe, wirklich intensiv Popmusik zu hören, verstehe ich sie nicht. Ich erinnere mich an daran, als Dreizehnjähriger in der Küche auf The Love Cats von The Cure zu tanzen – oder es zu versuchen. Diejenigen, die den vertrackten Rhythmus des Songs kennen, wissen, was ich meine. Ich hatte keine Ahnung davon, worum es in dem Lied eigentlich geht. Klar: um Katzen, ums „Vermissen“ (miss you) und ums Küssen (kiss you), also um Herz und Schmerz, und allzu viel mehr wollte ich damals ja auch nicht. Bis heute aber kenne ich den genauen Liedtext und seine Bedeutung nicht. Und widerstehe auch in diesem Moment der Versuchung, im Netz mal eben nachzuschauen.
Ich hätte meine lebenslange Unkenntnis sicher für mich behalten, hätte ich nicht neulich den Roman Blackbird von Matthias Brandt gelesen, einem der besten und bekanntesten deutschen Schauspieler dieser Tage und Sohn von Willy Brandt, der von 1969 bis 1974 Bundeskanzler war. Der Titel des Romans leitet sich von einem Song der Beatles ab. Matthias Brandt berichtete in einem Interview, dass er als Jugendlicher den Text nicht wirklich verstanden habe. Nicht gewusst habe, dass „blackbird“ (Amsel) in Paul McCartneys Text symbolisch für eine amerikanische Frau stehe, eine „person of colour“, die alltäglicher Diskriminierung ausgesetzt ist.
Genau hinhören
Nun sind Matthias Brandt und ich Teil einer Generation, die vor der Globalisierung aufgewachsen ist – in einer Zeit, wo die Beherrschung einer anderen Sprache „cool“ oder Ausweis von Bildung war, aber noch keine Notwendigkeit. Und zur Not ließ sich eh alles auf die schlechten Lehrer*innen schieben, die es nicht geschafft haben, in uns die Begeisterung für eine Fremdsprache zu wecken.Neulich fiel mir dann im Gegenzug das immens große Songrepertoire auf, bei dem meine beiden Töchter, denen ich ja eh viele Einsichten über die Sprache verdanke, mitsingen, sogar mitrappen können. Und das, wie mir schien, ganz ohne die üblichen Mondegreens, also die Verhörer à la: „The ants are my friends, they're blowin' in the wind! “ statt „The answer my friends, is blowing in the wind“, um hier einmal den Literaturnobelpreisträger Bob Dylan falsch und richtig zu zitieren.
Die singenden Töchter, zehn und vierzehn Jahre alt, gaben zum Beispiel so textsicher das Lied mit dem harmlosen Titel Rockstar eines Sängers namens Post Malone zum Besten, dass ich die Zeilen im Netz recherchierte. Und mit einem Schlag um 100 Jahre alterte, mich schwärzester Pädagogik bedienen und den Kindern das Hören dieser Art von menschenverachtender, frauenfeindlicher Musik unter Androhung von Strafe verbieten wollte. Ich besann mich dann doch eines Besseren, griff zum Mittel des aufklärenden Dialogs und fragte nur: „Versteht Ihr eigentlich, was Ihr da mitsingt?“
Hinter den Wörtern
Wenn ich mir selbst diese Frage stelle, nimmt sie plötzlich riesige Dimensionen an. Ist nicht die Sprache, die ich spreche, wie ein Lied, das ich mein ganzes Leben lang mitsinge, ohne den Text zu kennen? Ohne darüber nachzudenken, was hinter einzelnen Wörtern steckt? So dass erst andere Menschen kommen und mich darauf hinweisen müssen: „Verstehst Du eigentlich, was da mitschwingt, wenn Du von ‚Schwarzen‘ oder von ‚Farbigen‘ oder von ‚Rasse‘ sprichst?“ Dann habe ich die Wahl: Fühle ich mich wie ein Teenager, der belehrt werden soll? Der dann auf seine Unschuld beharren und den Vorwurf erheben kann, das würden doch alle so machen. Was sei denn daran falsch? Oder ich komme ins Nachdenken …Gestern habe ich zu zwei Songs, die ich derzeit sehr gerne höre, die Lyrics herausgesucht. Ich war sehr verwundert, was ich alles bisher nicht verstanden hatte. Wie viel Poesie, wie viel Rätselhaftes, wie viel mir bis dahin unbekannte Wörter. Ich habe sie alle nachgeschaut. Und muss sagen: Ich singe jetzt noch viel lieber mit.
Sprechstunde – die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.
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