Ein Gespräch mit Olafur Eliasson
Earth Speakr: Die Stimmen der Zukunft
© Olafur Eliasson
„Earth Speakr“ ist ein innovatives Projekt, das jene Gedanken erfahrbar macht, denen bisher nicht die gebotene Aufmerksamkeit geschenkt wurde – die Gedanken der Kinder über die Zukunft unserer Erde. Am 1. Juli 2020 gab der Künstler Olafur Eliasson den offiziellen Startschuss für das digitale Kunstwerk „in progress“, das von den Kindern selbst gestaltet wird und die Politik dazu auffordert, den Stimmen der Kinder bei Entscheidungen von kollektivem Interesse endlich entsprechendes Gehör zu schenken.
Von Giulia Mirandola
1. Juli 2020: Startschuss für Earth Speakr
Früher oder später musste es zu einem Kontakt zwischen dem dänischen Künstler Olafur Eliasson und dem nie umfassend erforschten Kontinent der Kinder kommen. 2020 wagen sich Eliasson und sein Berliner Studio auf die Reise. Ihr Ziel: Earth Speakr, ein virtueller, hoch entwickelter und dynamisch wachsender Ort, der von echten Jungen und Mädchen aus aller Welt „bewohnt“ wird. Earth Speakr basiert auf der Nutzung einer App und einer Online-Plattform, die im Laufe des Halbjahres der deutschen EU-Ratspräsidentschaft immer weiter wachsen wird. Am 1. Juli 2020 gab Eliasson den offiziellen Startschuss für das digitale Kunstwerk „in progress“, das von den Kindern selbst gestaltet wird. Seit vielen Jahren befasst sich der Künstler mit der Natur und globalen Umweltproblemen, 2019 wurde er vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNPD) zum Sonderbotschafter für den Klimaschutz und die Ziele nachhaltiger Entwicklung (Sustainable Development Goals) ernannt. Earth Speakr fordert die Politik dazu auf, den Stimmen der Kinder bei Entscheidungen von kollektivem Interesse endlich entsprechendes Gehör zu schenken.Ein globales Experiment
Wer vor einigen Monaten auf den Namen des dänischen Künstlers Olafur Eliasson stieß, wurde gedanklich auf den Schnalser Gletscher entführt, wo dessen nächste kreative Installation entstehen sollte: eine Stahlkugel auf dem Gipfel der Grawand im Schnalstal (Italien), auf über 3.251 Metern Seehöhe. In der Stadt lud das Berliner Studio von Eliasson unterdessen Jungen und Mädchen ein, an der Konzeption und Entwicklung eines globalen Experiments teilzunehmen, zu dem den Künstler sein Interesse für die Perspektive der Kinder, die digitale Welt, das Leben auf der Erde, die Zukunft und die Gesundheit unseres Planeten angeregt hatte. Earth Speakr lautet der Name dieses Experiments, das uns im wahrsten Sinne des Wortes Neuland betreten lässt. Über eine interaktive Weltkarte werden dabei jene Gedanken erfahrbar gemacht, denen bisher nicht die gebotene Aufmerksamkeit geschenkt wurde: die Gedanken der Kinder zu unserer Erde. Zentrales Instrument, um das Kunstwerk zu erleben, ist ein Netzwerk – bestehend aus einer App, einer Website und einem Youtube-Kanal –, das durch ein internationales Programm von interdisziplinären Initiativen für Kinder und mit Kindern ergänzt wird. Alle Elemente sind dabei miteinander verknüpft, um die Gedanken der Kinder zu unserem Planeten unmittelbar sicht- und hörbar zu machen. Zum heutigen Tag sind es über fünfzig Länder, aus denen Nachrichten, Stimmen, Bilder, Sounds einlangen. Ebenso unterschiedlich sind die Umgebungen, in denen diese aufgenommen und hochgeladen werden: in Städten, an Seen, in Parks, in den Bergen, auf Inseln, in Wäldern, auf Wiesen, in Häusern, in Dörfern, in Schutzhütten. Bis 31. Dezember 2020 ist noch Zeit, um mitzumachen. Die einzige, aber wichtigste Voraussetzung, die man dafür erfüllen muss: jünger als 18 Jahre alt zu sein.Stimmen aus aller Welt
Das Vorhaben ist zweifellos abenteuerlich. Genaueres lässt sich dazu momentan noch nicht sagen, denn das Projekt entwickelt sich beständig weiter und wächst nicht nur im Netz, sondern erfasst von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat auch ein immer größeres geografisches Gebiet. Zeit ist ein unsichtbarer Akteur in diesem Spiel, das technisch und technologisch so angelegt ist, dass praktisch von überall darauf zugegriffen werden kann, wo es neugierige Kinder gibt und ein Fleckchen Natur oder eine künstliche Umgebung sowie eine Internetverbindung vorhanden sind. Darüber hinaus ist Earth Speakr nicht nur in allen 24 offiziellen Landessprachen der Europäischen Union verfügbar, sondern gleichzeitig so konzipiert, dass die Nachrichten selbst an jedem beliebigen Ort und in jeder beliebigen Sprache der Welt hinterlassen werden können.Earth Speakr und die internationale Politik
Das Projekt Earth Speakr wird vom Auswärtigen Amt finanziert und in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut realisiert. Den offiziellen Startschuss für das partizipative Kunstwerk gab das Goethe-Institut Mailand am 1. Juli 2020, exakt dem Tag, an dem Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft für das Halbjahr 1. Juli bis 31. Dezember 2020 übernommen hat. Parallel zu Earth Speakr hat das Goethe-Institut zudem eine Reihe weiterer Kulturprogramme ins Leben gerufen, die eine unmittelbare Beteiligung verschiedener europäischer Städte vorsehen und thematisch die zentralen Punkte des Programms der deutschen Ratspräsidentschaft aufgreifen.Am 14. September macht das Projekt Earth Speakr in Neapel, im Stadtteil Ponticelli Station. Der Workshop wird vom Goethe-Institut Neapel organisiert und findet in Kooperation mit lokalen Kulturschaffenden statt: dem Verein Aste & Nodi, dem Künstler-Duo Bianco-Valente, der gemeinnützigen Organisation Maestri di Strada und dem Verein Terra di Confine.
7 Fragen an Olafur Eliasson
© Foto: Lars Borges Am 1. September feierte Earth Speakr seinen 2-monatigen Geburtstag. Um mehr über das junge Projekt zu erfahren, bin ich direkt zur Quelle gegangen und habe Olafur Eliasson sieben Fragen zur Rolle der Technologie, dem Beitrag der Kinder, der Bedeutung des Zufalls und der Beziehung zwischen kritischem Denken und Spielen gestellt.Wie sind Sie und Ihr Studio darauf gekommen, der App letztlich dieses Format zu geben und Augmented Reality einzubinden?
Die Kernidee war, ein Kunstwerk zu schaffen, in dem es um die Zukunft geht. Aber was oder wer ist die Zukunft? Die Antwort ist einfach: Kinder! Bei der Entwicklung des Formats standen sie für uns daher im Mittelpunkt. Außerdem sollte es ein Kunstwerk ohne Grenzen werden, an dem möglichst viele mitwirken können, weshalb wir uns bewusst für ein digitales, internetbasiertes Format entschieden haben. Es musste ein dynamisches Format sein, das Spaß macht und der Lebensrealität der Kinder von heute entspricht. Earth Speakr fängt die Ideen von Kindern ein und ermöglicht es ihnen, ihren Gedanken auf kreative Weise Ausdruck zu verleihen, in unmittelbarem Dialog mit ihrer Umgebung. Auf dieser Plattform kreieren die Kinder Inhalte, die Erwachsene nicht erwarten. Durch die Nutzung von Augmented Reality wird die Umgebung, in der man sich gerade aufhält, um eine zusätzliche Ebene erweitert.
Wie lief die Zusammenarbeit mit den Kindern im Rahmen der Konzept- und Projektentwicklung konkret ab? In welcher Hinsicht hat das Projekt davon profitiert, dass die Kinder von Anfang an eingebunden waren?
Im Zuge der Realisierung von Earth Speakr hat mein interdisziplinäres Team mit Unterstützung des Goethe-Instituts in verschiedenen europäischen Ländern entsprechende Workshops für Kinder organisiert und abgehalten. Es war notwendig, ihre Sichtweise kennenzulernen und herauszufinden, wie wir diese in die Konzept- und Projektentwicklung einfließen lassen können. Zudem begleiten wir seit Tag eins von Earth Speakr Organisationen, die schwerpunktmäßig für und mit Kindern arbeiten, bei der Vermittlung und Verbreitung der Werte des Projekts.
In welcher Form wollen Sie die Menge an Bildern, Sounds, Wörtern, Fragen und Ideen, die über Earth Speakr kreiert werden, analysieren und nutzen?
Auf der Website ist zunächst eine geografische Übersicht zu sehen: eine Weltkarte. Von hier kann man in andere Gebiete wechseln und unterschiedliche Filter anwenden, um die Welt von Earth Speakr zu erkunden und miteinander zu kommunizieren. Man kann nach Orten oder Themen suchen. Die Analyse von Daten zählt nicht zu den Zielen von Earth Speakr. Es geht vielmehr darum, sich überraschen zu lassen. Ich glaube, es ist das Gefühl der Überraschung, das uns anregt, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen, und das Veränderung erst möglich macht! Sich die Nachrichten der Kinder eine nach der anderen anzusehen, eröffnet unendliche Möglichkeiten. Auf dem zugehörigen Youtube-Kanal teilen wir Zusammenstellungen ausgewählter Nachrichten, um zum Dialog über die verschiedenen Themen anzuregen, die wir nach und nach aufkommen sehen. In zufälliger Reihenfolge.
Wie viele Personen haben bisher an dem Projekt mitgearbeitet und aus welchen Fachbereichen kommen sie?
Das Team, das Earth Speakr entwickelt und realisiert hat, umfasst Fachleute aus unterschiedlichen Bereichen – von Kommunikationsexperten, über Programmierer und Architekten bis hin zu Videodesignern –, die mit einem wachsenden Netzwerk externer Akteure zusammenarbeiten. Solange das Projekt nicht abgeschlossen ist, ändert sich auch die Zahl derer, die daran mitarbeiten, ständig. Allgemein arbeiten wir eng mit dem Auswärtigen Amt und dem Goethe-Institut zusammen. Darüber hinaus haben mein Studio und ich uns mit einem Team von Fachleuten beratschlagt, die unmittelbar mit Kindern arbeiten.
Warum sind die Ideen und die Perspektive der Kinder Ihrer Meinung nach gerade jetzt so wichtig, wenn es um das Thema Klimawandel geht?
Mich haben die Millionen europäischer Kinder und Jugendlicher inspiriert, denen die Gesundheit unseres Planeten ein dringendes Anliegen ist. Sie verstehen, was da gerade passiert, aber nicht alle von ihnen haben die Möglichkeit, ihre Ideen zu äußern und mit anderen zu teilen. Die Bewegung, die Greta Thunberg in Gang gebracht hat, ist ein wundervolles Beispiel. Earth Speakr soll eine Erfahrung sein, die unter den Kindern dieser Welt ein Gefühl der Gemeinschaft und Verbundenheit entstehen lässt. Gleichzeitig lädt Earth Speakr die Entscheidungsträger dazu ein, zuzuhören und die Botschaften der Kinder ernst zu nehmen. Denn Entscheidungen, die das Klima und unsere Zukunft betreffen, werden nur allzu oft gefällt, ohne unsere Zukunft, also die Kinder selbst, zu befragen.
Welches Verhältnis hatten Sie als Kind zur Natur?
Die Natur war für mich immer eine Quelle der Inspiration. Die Landschaft Islands war für mich ein Laboratorium, in dem ich erste Skizzen für meine späteren Kunstwerke machte. Auf meinen Wanderungen und Reisen lernte ich, Entfernungen und Tiefe einzuschätzen und begann zu verstehen, wie unsere Bewegungen den Dingen, die wir sehen, ihre Form verleihen. Die Landschaft beeinflusst unsere Wahrnehmung und umgekehrt. Kunst und Natur sind für mich Verbündete, sind Teil desselben geistigen Raums.
Einmal drückte mir mein Vater, der ebenfalls Künstler war, Papier und Stift in die Hand und forderte mich auf, das Blatt vollzukritzeln. Er nannte das „mit der Hand über das Papier tanzen“. Dann bat er mich, mir ein Tier auszusuchen, zum Beispiel eine Katze, die ich dann in den Kritzeleien finden sollte. Wenn mir das nicht gelänge, würde er sie finden, versprach er mir. Das Wichtige bei dieser visuellen Suche war, das Wesen der Katze zu erkennen, nicht die „falsche“ oder „richtige“ Form.
Besteht die reelle Aussicht, dass die Kinder künftig dauerhaft aktiv im Studio Eliasson mitarbeiten?
Dank Earth Speakr habe ich entdeckt, dass ich ausgesprochen gern direkt von Kindern lerne. Vor allem jetzt, da die Plattform in ihren Händen liegt, finde ich es spannend zu sehen, wie sie sich Earth Speakr zu eigen machen. Im Laufe der Jahre hat mich immer wieder fasziniert, wie Kinder auf meine Kunstwerke reagieren. Natürlich sehe ich Kinder als Teil meines Publikums und Earth Speakr hat meinen Blickwinkel erweitert, was den Adressatenkreis einer Ausstellung oder eines Kunstwerks betrifft. Gern würde ich die Sichtweise junger Generationen daher auch weiterhin im Blick behalten.
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