Postkoloniale Migration
Wo kommst du (wirklich) her?
Besteht ein Zusammenhang zwischen der Migrationsbewegung von Peruaner*innen nach Deutschland und den geschichtlichen Folgen der deutschen kolonialen Strukturen in Peru? Was bewegte meinen Urgroßvater Otto Elsner dazu, in dieses Land auszuwandern? Lebten um das Jahr 1925 oder in der Zeit davor noch andere Deutsche in Peru? Wie sahen ihre Leben aus?
Von Helga Elsner Torres
Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, mithilfe der Familienforschung und der Zusammenstellung von Archivmaterial aus dem Besitz von derzeit in Berlin lebenden Peruaner*innen mit deutschen Wurzeln die vorherrschende Geschichtsschreibung der Vergangenheit und Gegenwart zu hinterfragen.
Im Rahmen eines künstlerischen Archivprojekts werde ich eine Reihe von Werken schaffen, die direkt durch das zusammengetragene Material inspiriert wurden. Diese sollen dann ihrerseits als Ausgangspunkt für Gespräche über die postkolonialen Migrationsströme im heutigen Berlin dienen.
Die deutschen Auswanderer*innen erreichten Peru ab Mitte des 19. Jahrhunderts. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm ihre Zahl deutlich zu. Damals gab es zwei mögliche Reiserouten nach Peru. Die erste führte über Bremen. Aufgrund der hohen Anzahl von Migrant*innen, die sich wegen der erleichterten Einreisebedingungen für deutsche Staatsbürger*innen auf den Weg machten, richtete Peru mehrere neue Häfen ein, welche die Ankunft aus Bremen erleichterten.
Die zweite Route führte über Hamburg. Nach Zwischenhalten in Brasilien, Cabo de Hornos und Chile gelangte man endlich nach Peru. Die Werbeplakate waren farbenfroh und stellten Südamerika zumeist als einen exotischen Ort mit einer sagenhaften Naturvielfalt und jeder Menge unentdeckter Schätze dar.
Das Projekt Wo kommst du (wirklich) her? findet seinen Ursprung in der Zusammenstellung von Archivmaterialien und Familiendokumenten. 1996 reiste mein Großvater, der Sohn eines Deutschen, zum ersten Mal nach Europa: mit peruanischem Pass und Touristenvisum.
Im Laufe des Projekts werden nicht nur Familienfotos ausgetauscht, sondern auch Geschichten und Anekdoten zur Migration, Dokumente, Briefe sowie viele andere materielle Gegenstände und Reflexionen, die uns die Geschichte unserer Vorfahren rekonstruieren lassen.
Selbst wenn Peru offiziell keine deutsche Kolonie war, herrschten im Land doch koloniale Strukturen, welche den Deutschen einen direkten und bevorzugten Umgang mit der damaligen politischen Elite des Landes ermöglichte. So erging es vielen deutschen Kaufleuten, die durch den Export von Rohstoffen und lokalen Produkten schnell ihr Kapital und damit auch ihre Investitionen vergrößern konnten, riesige Flächen Land – insbesondere an der Zentralküste und im Norden Perus sowie im Regenwald – und immer mehr Grundbesitz erstanden, um im Anschluss mächtige und einflussreiche Unternehmensgruppen zu gründen. So auch im Falle der Familie Gildemeister aus Bremen, die durch den Export und Verkauf von Salpeter und dank der Zuckerproduktion zu Reichtum gelangte.
Während der Blütezeit des Betriebs holte diese Familie immer mehr deutsche Arbeiter*innen nach Peru, beispielsweise Verwalter und Agronomen. Die meisten von ihnen wurden auf dem ausgedehnten Landgut Casa Grande im Norden des Landes untergebracht.
Ihre Produktionsstätten, die sogenannten Haciendas, waren entlang der breiten und äußerst fruchtbaren Nordküste und im Zentrum Perus angesiedelt. Eine von ihnen war die Hacienda Barbacay in Huarmey, wo mein Urgroßvater eine Anstellung fand.
Im Rahmen dieser Forschung und anhand des Austauschs vorhandener Informationen wird rasch deutlich, dass die deutschen Migrant*innen in Peru viele Privilegien genossen. Einigen Auswanderer*innen versprach die peruanische Regierung ein Stück Land, falls sie sich für Peru entschieden – ein Versprechen, das nicht immer eingelöst wurde. Die reicheren von ihnen besaßen bald ihre eigenen Haciendas und Privathäfen für den Exporthandel. Wieder andere betrieben Landwirtschaft und versorgten die anderen Deutschen mit Gegenständen, die in ihrem Heimatland kaum oder nur schwerlich zu erstehen waren, etwa Töpferware, Stoffe oder prekolombinische fardos funerarios, in Stoffe eingeschlagene und mit Grabbeigaben verzierte Leichname, auch Mumienballen genannt.
Enrique Böttger, Gründer von Oxapampa und Besitzer eines Bauerngutes im Bezirk Chontabamba, betrieb Handel mit der indigenen Bevölkerung der Amuesha und tauschte aus Deutschland mitgebrachte Gegenstände – zum Beispiel Spiegel – gegen Malereien oder praktisches Wissen zum Anbau von Maniok ein. Enrique ging gemeinsam mit seinem Bruder Pablo nach Peru, doch Letzterer siedelte sich in Yanachaga an. In dieser Ortschaft in der Region des zentralen Regenwalds lebt noch heute eine nicht unbedeutende Zahl von Peruaner*innen mit deutschen Wurzeln.
Was bewegte die Auswanderer*innen zur Migration nach Peru? Während einige von ihnen aus ärmlicheren Milieus stammten und sich durch diesen Schritt bessere Zukunftsaussichten erhofften, gelang es anderen, sich schnell und dauerhaft in Peru niederzulassen. Ausschlaggebend dafür waren die reichlich vorhandenen natürlichen Ressourcen, die riesigen unbevölkerten Landstriche und die tatkräftige Unterstützung der peruanischen Regierung.
Viele deutsche Migrant*innen gaben sich offiziell nur mit anderen Deutschen ab. Sie heirateten innerhalb ausgewählter Kreise und ihre Kinder wurden nach deutschen Maßstäben erzogen. Einige deutsche Männer gründeten allerdings Parallelfamilien mit peruanischen Frauen.
In selteneren Fällen kam es allerdings auch vor, dass deutsche Auswander*innen langfristige Beziehungen mit Peruaner*innen eingingen und mit ihnen Familien gründeten.
Auf den Haciendas, die den ersten deutschen Einwanderer*innen gehört hatten, wuchsen im Laufe der Jahre viele weitere Generationen heran.
Heute, mehrere Jahrzehnte später, haben sich viele Nachkommen dazu entschlossen, nach Deutschland zurückzukehren. Die Ursachen sind stets unterschiedlich, doch die Beweggründe sind dieselben wie damals: die Suche nach neuen Wegen und Möglichkeiten. Oft spielt der erleichterte Zugang zu einem Universitätsstudium eine Rolle, manchmal ist es auch einfach der Wunsch, die eigene Lebensqualität zu steigern und in einem Land zu leben, das sicherer ist als das gegenwärtige Peru.
Aus diesem Grund kann in Deutschland – einst eine Reichtümer anhäufende Kolonialmacht – nun eine postkoloniale Migration festgestellt werden: eine naheliegende Erklärung für die gegenwärtigen Migrationsströme in Richtung Europa.
Doch besteht wirklich Chancengleichheit für peruanische Auswanderer*innen in Deutschland? Und besteht ein Zusammenhang zwischen den Nachwirkungen der kolonialen Strukturen und den gegenwärtigen Migrationsbewegungen zwischen Deutschland und Peru? Mit diesen und anderen Fragestellungen werde ich mich auf künstlerischer und persönlicher Ebene auseinandersetzen. Die Ergebnisse werden ab dem 5. November 2021 in einer Ausstellung in der KulturMarktHalle e. V. in Berlin zu sehen sein.
Einige Nachfahren deutscher Migrant*innen stehen vor dem Problem, dass sie ihre deutschen Wurzeln weder eindeutig kennen noch nachweisen können und daher keinen deutschen Pass besitzen. Es bleibt ihnen also nichts anderes übrig, als denselben Weg zu beschreiten wie alle anderen außereuropäischen Migrant*innen: Sie müssen ein temporäres Visum beantragen.