Die Herausforderung der Integration Demokratie und koloniales Erbe in Lateinamerika
Inwieweit stellt die externe Abhängigkeit von den ehemaligen imperialen Mächten eine Herausforderung für die Demokratie dar? Nicolás Lynch Gamero beleuchtet die Situation in Lateinamerika.
Von Nicolás Lynch Gamero
Die Demokratie als politische Ordnung ist in Lateinamerika zum Gegenstand von Spannungen geworden zwischen denjenigen, die sie schamlos als ein importiertes Regierungssystem bezeichnen, und jenen, die beharrlich nach autochthonen Wurzeln für ihr Florieren suchen. Erstere haben in den vergangenen zweihundert Jahren Verfassungen geschrieben, die eine egalitäre Rhetorik über eine eklatant ungerechte Realität hervorgebracht haben, was in vielen Fällen zu noch mehr Ungerechtigkeit geführt hat. Zweitere haben die Wurzeln für die Demokratisierung beharrlich in den sozialen und politischen Prozessen der Region gesucht und die Demokratien auf dem Papier infrage gestellt, die begrenzte und sogar negative politische Auswirkungen auf die politische Beteiligung und Vertretung der Bevölkerung hatten.
HumboldtHuaca, Feldrecherche in der Community von Chuquitanta, Lima, Oktober 2020
Ein wesentlicher Punkt zur Erklärung dieser Spannungen ist das koloniale Erbe. An erster Stelle steht die Aufrechterhaltung der ökonomischen und sozialen Strukturen, die sich seit der Kolonialzeit entwickelt und die die kreolischen Eliten beeinflusst haben. Diese waren als Oligarchie organisiert, wodurch sich politische Machtapparate wiederholt haben, die es ihnen ermöglichten, die indigenen Mehrheiten und auch Mehrheiten anderer Ethnien weiterhin auszugrenzen und auszubeuten. An zweiter Stelle steht die in die Länge gezogene koloniale Abhängigkeit in der neokolonialen Beziehung zu neuen ausländischen Mächten, vor allem zu Großbritannien und später den Vereinigten Staaten, die die Produktion und insbesondere den Abbau von Rohstoffen für den Weltmarkt ihren ökonomischen Interessen entsprechend organisiert haben. Obgleich dadurch der Aufbau und eine Zentralisierung des Staatsapparats angestoßen wurden, hat diese neokoloniale Herrschaft doch die politische Ordnung aufrechterhalten, die die Mehrheiten in jedem Land ausgeschlossen hat.
In die Länge gezogene koloniale Abhängigkeit
José Carlos Mariátegui (1970) hat in den 1920er-Jahren darauf hingewiesen, dass im Fall Perus in der neokolonialen Abhängigkeit die Bedürfnisse der Oligarchie zum Ausdruck kommen, die Auslandsinvestitionen in Exportenklaven und die Ausbeutung der indigenen Bevölkerung auf großen präkapitalistischen Haziendas. Eine Situation, die von einer Gleichstellung und einem allgemeinen Wahlrecht, das für den Aufbau eines minimaldemokratischen Regierungssystems unabdingbar ist, mit Sicherheit weit entfernt ist.
„Die Schwierigkeiten der Demokratie in Lateinamerika hängen eng mit dem kolonialen Erbe zusammen, das es den Ländern schwer macht, eine Autonomie aufzubauen, eine erste und fundamentale Bedingung für eine freie Meinungsäußerung der Bürgerinnen und Bürger und für eine eigene Beschlussfassung der Staaten.“
Erst die Weltwirtschaftskrise 1930 hat dem Extraktivismus schweren Schaden zugefügt, als es auf Seiten der ausgegrenzten Gruppierungen der Bevölkerung die ersten anti-oligarchischen Reaktionen gab. In mehreren Ländern formierten sich verschiedenartige Koalitionen, die die Probleme der sozialen Gerechtigkeit, der nationalen Entwicklung und Souveränität deutlich gemacht und das hervorgebracht haben, was später in der politischen Soziologie (Germani 1965) als nationale Volksbewegungen bezeichnet wird. Die anti-oligarchische Reaktion führt zunächst zu einer Allianz zwischen den örtlichen Eliten und der ausländischen Imperialmacht, die sie als das zu besiegende Zielobjekt ansieht, damit die Mehrheit der Bevölkerung in eine demokratische Ordnung aufgenommen werden kann. Der Antiimperialismus wird also zum Programm, wie aus einem frühen Buch von Víctor Raúl Haya de la Torre (1972) mit dem Titel El Atimperialismo y el APRA hervorgeht, das in den Randgebieten der Region bei Lázaro Cárdenas in Mexiko und Juan Domingo Perón in Argentinien auf Resonanz trifft. Demnach eint die neokoloniale Abhängigkeit die Eliten und die Imperialmacht darin, die Demokratie und das Entstehen einer Opposition zu verhindern, die mit diesem Erbe abschließen und Lateinamerika demokratisieren will.
Theorie der Abhängigkeit
Jenseits des Antiimperialismus, der in erster Linie eine politische Strömung war, bildete sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Region jedoch eine Denkströmung heraus, die wir allgemein als „die Theorie der Abhängigkeit“ bezeichnen können: angefangen bei Raúl Prebisch (1987) und dem Strukturalismus, der sich in der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) entwickelt – mit Festlegung der Begriffe Zentrum und Peripherie zur Verortung der lateinamerikanischen Ökonomien – über die Beiträge von Fernando Henrique Cardoso und Enzo Faletto (1969) zur politischen Dimension der Abhängigkeit und die Überlegungen von Ruy Mauro Marini (1973) zur übermäßigen Ausbeutung der Arbeitskräfte in der Peripherie bis hin zu den jüngsten Arbeiten, wie zum Beispiel von Aníbal Quijano (2011) zur Kolonialität der Macht. Stellen wir uns ein Polyeder vor, das den ursprünglichen Antiimperialismus verkörpert und zu dem die ökonomische Dimension, die soziale Dimension, die politische Dimension und die Dimension der Arbeit hinzugefügt wird; wie bei der Situation unserer indigenen Völker. Die Theorie der Abhängigkeit war ein sehr wichtiger Schritt bei der Fortschreibung des kolonialen Erbes im gesamten 20. Jahrhundert und zur Verdeutlichung der Grenzen beim Aufbau einer Demokratie in solchen Staaten mit wenig Autonomie.
„Die Abhängigkeit und das Vermächtnis, das sich in der Kolonialität der Macht widerspiegelt, verhindern eine Demokratisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften, eine gleichwertige Betrachtung der anderen sowie den Aufbau eines Regierungssystems mit Mehrheitsbeteiligung und Mehrheitswahl.“
Der Beitrag, der die Abhängigkeitssituation wahrscheinlich am besten zusammenfasst, ist der von Aníbal Quijano und seine These zur Kolonialität der Macht. Quijano schreibt, dass sich seit der Eroberung bis heute historische, soziale und politische Abhängigkeitsstrukturen zwischen unserem Teil der Welt und den Zentren der Kolonial-/Imperialmacht verfestigt haben. Und dass sich diese Strukturen um eine Klassifizierung der Bevölkerung nach Ethnien als Hauptachse der Kolonialmacht drehen und dass die Ausbreitung des Kolonialismus/Imperialismus zu einer eurozentristischen Perspektive des Bewusstseins führt. Für Quijano sind die Klassifizierung nach Ethnien und eine übermäßige Ausbeutung der Arbeitskräfte strukturell miteinander verbunden. Hier bezieht er sich auf José Carlos Mariátegui in seinen Schriften zum „indigenen Problem“ und auf Pablo González Casanova (1963, 2003) in seiner Arbeit zum internen Kolonialismus sowie auf Ruy Mauro Marini, um aufzuzeigen, dass die Beherrschung von Ethnien und die Ausbeutung von Klassen durch das Phänomen der Kolonialität der Macht miteinander verbunden sind. In diesem Punkt folgt er Cardoso und Faletto und schreibt, dass die Kolonialität nicht nur ein Problem der externen Abhängigkeit darstellt, sondern auch der internen Machtorganisation in unseren Gesellschaften, in denen eine Minderheit, die Erbin der Kolonialmacht ist und diese reproduziert, über Mehrheiten herrscht, die Erben der indigenen Völker sind. Darum betreiben diejenigen, die regieren, nicht nur Klassenausbeutung, sondern sie schätzen die untergebenen Ethnien außerdem gering.
„Die Theorie der Abhängigkeit war ein sehr wichtiger Schritt bei der Fortschreibung des kolonialen Erbes im gesamten 20. Jahrhundert und zur Verdeutlichung der Grenzen beim Aufbau einer Demokratie in solchen Staaten mit wenig Autonomie.“
Die Abhängigkeit und das Vermächtnis, das sich in der Kolonialität der Macht widerspiegelt, verhindern eine Demokratisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften, eine gleichwertige Betrachtung der anderen sowie den Aufbau eines Regierungssystems mit Mehrheitsbeteiligung und Mehrheitswahl. Die Schwierigkeiten der Demokratie in Lateinamerika hängen eng mit dem kolonialen Erbe zusammen, das es den Ländern schwer macht, eine Autonomie aufzubauen, eine erste und fundamentale Bedingung für eine freie Meinungsäußerung der Bürgerinnen und Bürger und für eine eigene Beschlussfassung der Staaten.
Bibliografie
Cardoso, Fernando Henrique und Enzo Faletto, 1969: Dependencia y Desarrollo en América Latina. Buenos Aires: Siglo Veintiuno editores.
Germani, Gino, 1965: Política y Sociedad en una época de transición. Buenos Aires: Editorial Paidós.
González Casanova, Pablo, 1963: Sociedad plural, colonialismo interno y desarrollo. UNESCO
Colonialismo interno (Una redefinición). 2003, Universidad Nacional Autónoma de Mexiko. Instituto de Investigaciones Sociales.
Haya de la Torre, Víctor Raúl,1972: El antimperialismo y el APRA. Lima: Editorial – Imprenta Amauta S.A.
Mariátegui, José Carlos, 1970: Siete ensayos de interpretación de la realidad peruana. Lima: Empresa Editora Amauta
Marini, Ruy Mauro, 1973: Dialéctica de la Dependencia. Mexiko: Ediciones Era.
Prebisch, Raúl, 1987: Cinco etapas de mi pensamiento sobre el desarrollo. Santiago de Chile: Comisión Económica para América Latina y el Caribe (CEPAL).
Quijano, Aníbal, 2011: „Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina“ in: La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Edgardo Lander (Hrsg.). Buenos Aires: Ediciones Ciccus-Clacso, 2. Ausgabe.