August Sander Inszenierung deutscher Vergangenheit
Zum 50. Todestag des Fotografen August Sander (1876-1964) erinnerten 2014 drei Ausstellungen in Köln, Bonn und München an seinen Porträtzyklus „Menschen des 20. Jahrhunderts“ – ein künstlerisches Großprojekt, das mit Aufnahmen von Bauern, Handwerkern, Soldaten, Politikern und Künstlern einen Blick auf die deutsche Gesellschaft zur Zeit der Weimarer Republik eröffnet.
Drei Jungbauern aus dem Westerwald halten auf ihrem Weg in die Stadt kurz inne, um sich dem Auge des Betrachters zuzuwenden, der diesen alltäglichen Moment aus dem Jahre 1914 für immer ins Bild bannt. Eine Bauernfamilie hat sich sittsam auf Stühlen vor dem Rhein in Szene gesetzt. Der Fluss bestimmt den Bildhintergrund und damit auch die Herkunft der Familie. Ein Konditor in weißer Kittelschürze hält für einen Moment im Rühren inne, selbstbewusst fixiert sein Blick den Fotografen. Ein Arbeitsloser lehnt verloren an einer Hauswand, umschlottert von einem viel zu großen Mantel. Ein Tenor hält mit zarter Hand den Wollschal, der seine Stimme schützen soll. Es folgen Porträts eines Wachtmeisters, eines Piloten, eines Soldaten, eines Handlangers, eines Theologen und eines Künstlers.
August Sanders Ziel war es, mit diesen Aufnahmen ein umfassendes Porträt der deutschen Gesellschaft in einer klar abgegrenzten historischen Epoche zu zeigen. Fotografie war für ihn – als Wegbereiter der Neuen Sachlichkeit – vor allem ein Medium der Darstellung und der wirklichkeitsnahen Wiedergabe des gewählten Sujets, hinter dem der Fotograf als Autor in den Hintergrund treten sollte. Sander wählte dafür eine den Charakter des Dokumentarischen unterstützende Chronologie: Die Porträts gliedern sich in die sieben Einzelbände: Der Bauer, Der Handwerker, Die Frau, Die Stände, Die Künstler, Die Großstadt und Die letzten Menschen, wie der Versehrte, Behinderte oder der Blinde.
Zwischen Individualität und gesellschaftlicher Repräsentanz
Die Menschen, die einem von den Bildern entgegenblicken, werden dabei durch ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit bestimmt: durch die Berufe, die sie ausüben oder durch die Stände, denen sie zugehören. Beigefügt sind dem Porträt Ort und Zeit der Aufnahme, nicht jedoch der Name der Person – außer in besonderen Fällen, in denen diese einen gewissen Grad an gesellschaftlicher Bekanntheit erlangt hatte. So werden Figuren in ihrer Spannung zwischen Individualität und gesellschaftlicher Repräsentanz gezeigt. Das wettergegerbte Antlitz eines Bauern verschmilzt in der Reihung der fotografischen Sammelmappe mit allen weiteren gezeigten Bauernporträts zu dem Gesicht des einen Bauern als Exemplar des „erdverbundenen Menschen“, wie Sander ihn nannte. Als Leib gewordene Geschichte hat sich der Stand bis tief in die Physiognomie eingeprägt. Der Habitus, den der französische Soziologe Pierre Bourdieu als Verinnerlichung und damit Verkörperung strukturell vorgegebener klassenspezifischer Grenzen begriff, beschränkt sich nicht auf Kleidung und Geschmack, sondern bestimmt auch Körperhaltung und Ausdruck der Person. Besonders deutlich wird das an den Aufnahmen der Jungbauern aus dem Westerwald, die in ihren besten Sonntagsgewändern abgelichtet sind, dadurch aber nichts von ihrem Jungbauerntum einbüßen, an den Porträts des sinnierenden Theologen, des forschen Bankiers oder der in sich erstarrten Familie des Politikers.
August Sander, Handlanger, 1928, Sammlung Lothar Schirmer, München
Verlorene Gewissheiten
Die von Sander so vorgenommenen Kategorisierungen reflektieren eine Gesellschaftsauffassung, in der die Referenzpunkte der Menschen klar definiert werden konnten, eine Welt voller Eindeutigkeiten – so zumindest stellt sie sich uns dar. Er verortet sie präzise in der Landschaft, begleitet von der klaren Zuweisung zu einer gesellschaftlichen Rolle – und sei es die der untersten Positionen, als Zigeuner oder als Blinder. Rührt daher auch das bewegte und angerührte Hinblicken des modernen Rezipienten seines Werks? Ein Archiv deutschen Lebens, in dem die Welt von Gewissheiten gehalten erscheint. Sicherheiten, die in Anbetracht der politischen Entwicklungen der darauffolgenden Jahre nur als trügerisch bezeichnet werden konnten.
Vermächtnisse einer vergangenen Welt
Wir begegnen in den Fotografien der Bauernfamilien, des Wachmanns und des Geistlichen knorrigen Gesichtern, die meist stolz und mit einem weit in die Ferne gerichteten Blick starr in die Kamera blicken. Wir sehen Vertreter einer deutschen Vorkriegsgesellschaft, wie sie nur wenige Jahre später nicht mehr anzutreffen war. Und hier erinnern die Fotografien Sanders an die Aufnahmen des amerikanischen Fotografen Edward Curtis, der die indigenen Gesellschaften Nordamerikas zum festen Bestandteil unseres inneren Bildarchivs werden ließ. Vermächtnisse des Stolzes und des In-sich-Ruhens der Häuptlinge, abgelichtet kurz vor ihrer Vernichtung. Sander inszeniert und konstruiert eine deutsche Vergangenheit, deren Ruhe, Geborgenheit und Innerlichkeit fasziniert.