Sam Rountree Williams
Goethe-Institut Neuseeland und Contemporary HUM präsentieren eine Artikelserie über neuseeländische Künstler*innen, die in Deutschland physisch und künstlerisch ein neues Zuhause gefunden haben. Die Wissenschaftlerin Jan Bryant sprach mit Sam Rountree Williams.
Von Jan Bryant
Sam Rountree Williams lebt seit beinahe zehn Jahren nicht mehr in Aotearoa, sondern studierte in Düsseldorf und London, bevor er sich schließlich in Berlin niederließ. Wir telefonieren inmitten der langen winterlichen Covid-19-Lockdowns in Melbourne/Auckland miteinander. Er macht gerade Urlaub auf Paros. Es ist Sommer. Das schmerzt. Aber ihn mir in dieser Landschaft mit kristallklarem Wasser und Küsten ohne üppiges Grün, mit Sonne und düsteren Geschichten von Krieg und Besatzung vorzustellen, spielt in die heiter/düstere Vorstellungswelt seiner Gemälde mit ihren rauen, existentiellen, in glatte Farben gebadeten Themen hinein. Seine Bilder packen einen auf überraschende Weise.
Kurz nach dem Abschluss der Elam School of Fine Arts in Auckland (2007) begann Sam in seinen Gemälden Tuangi (Herzmuscheln) zu verwenden (2008) [1]. Sie sind ein Element, das sein Werk mit Aotearoa ebenso wie mit Europa verbindet. Ich erinnere mich, wie ich sie in seiner Wohnung samt Studio im obersten Stock eines alten Gebäudes mit Oberlichtern in der Innenstadt sah. Es war ein Schock, diese neuen Arbeiten zu sehen; zu sehen, dass Sam sich bereits von den großen abstrakten Gemälden entfernte, die er erst kürzlich entwickelt hatte – morastig, voller Anspielungen, fesselnd, mit Farbflächen, die sich in Feldern aus hässlichen Brauntönen befanden. Diese Gemälde waren bereits schwierig und verlangten Zeit. Ich dachte damals, er habe eine Plattform erreicht, von der aus ein junger Maler beginnen würde, in die Tiefe zu gehen, zu verfeinern, auszubauen. Und dann führte Sam plötzlich mit Hingabe Tuangi-Muscheln und Sprühfarbe ein, um Flächen mit texturierten und weichen, mosaikähnlichen Anordnungen zu produzieren. Solche Überraschungen kennzeichnen Sams Herangehensweise an die Malerei, stets herausfordernd, nie auf dem einfachsten Weg oder unter Zugeständnissen an wirtschaftliche Vorgaben, sondern mit einem tiefen und kompromisslosen Interesse an der Malerei und ihren Möglichkeiten.
Genau wie seine frühen Ölgemälde waren diese Tuangi-Gemälde nicht figürlich. Eine Vertrautheit mit Farbe kann die Tendenz haben, das Substrat zu entmaterialisieren, insbesondere, wenn das Bild die Materialien des Herstellungsprozesses überwältigt. Durch den Einsatz eines unvertrauten Materials zeitigten die Tuangi-Gemälde ein erhöhtes Bewusstsein für die Arbeit, die zur Schaffung eines Werks gehört: Man sah Sam vor sich, wie er die Weiten des örtlichen Sandwatts entlangwandert, zwischen den Gezeiten Tuangi ausgräbt, diese kleinen Objekte reinigt, sortiert, für ihre Anordnung zu einer Form auf einer flachen Oberfläche bereit macht. Es ist nicht nur die in der Kunst oft verborgene Arbeit, die in den Tuangi-Gemälden offenbar wurde. Durch die stoffliche Verbindung dieser Werke mit dem Land selbst kam eine unverhohlenere politische Ästhetik zum Vorschein, die in seinen frühen Ölgemälden weniger offensichtlich war. Tuangi sind direkt mit einem Ort verbunden, mit dem Meer, mit den Küsten von Aotearoa, mit den Māori, mit traditionellen Nahrungsquellen, mit ihrer Sprache, Te Reo, und ihrer Kultur, Māoritanga. In der Schöpfungsgeschichte sind Tuangi, die in großen Kolonien unter dem Sand oder dem Schlickwatt liegen, die Kinder von Te Arawaru und Kaumaihi, die ihrer Beschützerin Hine-moana (der Sandmagd) anvertraut wurden. Sich an die traditionellen Geschichten zu erinnern heißt auch, der anhaltenden Auswirkungen von Invasion, Kolonialkriegen und unvollendeten Abkommen sowie der Frage eingedenk zu sein, wie man im Pazifik, weit weg von fernen europäischen Vorfahren, als Pakeha, als weißer Siedler, Maler sein kann.
Nach langer Unterbrechung ist Sam kürzlich zu seinen Muschelgemälden zurückgekehrt und sammelte an den Stränden von Dänemark hjertemusling (Gemeine Herzmuscheln). Das Sammeln von hjertemusling lässt Bilder von kalten, nördlichen Meeren aufkommen, die im Winter schwarz und im Sommer nie wirklich warm genug sind. Herzmuscheln aus der Nordsee (Cerastoderma edule) sind eine andere Art als die, die man in Aotearoa findet (Austrovenus stutchburyi). In den verflochtenen Komplikationen von Ort und Raum ist es die Abweichung einer Spezies auf der Gattungsebene, die zulässt, dass kleine Unterschiede sich exponentiell vergrößern. Wenn Distanz die Komplikationen von Heimat bis zu einem gewissen Grad auflockert, was bedeutet das für einen Maler, der nicht in seinem Geburtsland Aotearoa, sondern in Deutschland arbeitet, einem Land, zu dem nur kürzliche Bindungen an Ort und Raum entstehen?
Ein Werk aus der Serie, Devil II (2019), ist mit in geringem Abstand angeordneten hjertemusling bedeckt, ihre Rückseite an der flachen Oberfläche befestigt, ihre innere Wölbung nach außen gewandt, um dem Werk Struktur, Schatten und Licht zu verleihen. Muscheln und Sprühfarbe formen sich zu einem drolligen kleinen Teufel in Rot, Blau, Rosa und Türkis, mit lila Hörnern und knallgrünen Tränen, die aus seinen Augen strömen. Er ist von einer fäkal-lehmigen Farbe, Dunkelbraun und Schwarzblau umrandet. Die Tendenz, helle Farben in dunkle Felder zu setzen, lässt sich bis zu Sams frühen abstrakten Gemälden zurückverfolgen und man könnte geltend machen, dass Verfremdung als Effekt von Sams Gemälden wohl von Anfang an vorhanden war. Eine Entwicklung dagegen, die mit seinem Umzug nach Deutschland zusammenfällt, ist die effektvolle Verschmelzung von Verspieltheit und Düsternis in ein und demselben Werk. Vielleicht könnte ich extrapolieren und nahelegen, dass sie von einem Gefühl von Heimeligkeit/Heimatlosigkeit durchdrungen sind, das andeutet, dass man Teil seiner Wahlheimat ist und doch nie wirklich dazugehört.
Indessen habe ich bei meiner Diskussion der Teufelsfigur den größten Umbruch (die größte Überraschung) übersprungen; Sams Verabschiedung von gegenstandsloser Abstraktion hin zur Darstellung eines Ensembles verfremdeter Figuren mit steifer Körperhaltung (2013 – heute), die sich parallel zu seinem Umzug nach Deutschland entwickelte. Er ließ sich letztlich in Berlin nieder, mit seinem Angebot an Menschen, an Breite und Tiefe der Ausstellungskultur, und stieß dort auf einer persönlicheren Ebene zudem auf die Überreste einer düsteren Atmosphäre der Romantik in der Tradition von Caspar David Friedrich (1774—1840), die er für sich nutzbar machen konnte. Sams seltsame, zeitgenössische Figuren befinden sich am entferntesten Punkt einer mimetischen Wiedergabe (bisweilen etwas cartoonhaft) und werden auf hell/dunklen, nachdrücklich flachen Oberflächen platziert. Anders als die Figur in Devil II (2019), die den Großteil des Malgrunds einnimmt, finden sich in diesen Werken häufig kleine, isolierte Figuren, die in verschiedenen strukturellen (häufig architektonischen) Lagern positioniert sind. Ich verwende den Begriff „Lager“ hier mit Bedacht, denn diese Figuren sind wieder und wieder in angsteinflößenden Welten eingesperrt. Es sind Figuren, die auf eine Weise gefangen sind, die sie jeder Handlungsmacht zu berauben scheint. Fantasia (2019) und Villa (2018) weisen jeweils zwei Figuren auf: die eine aufrecht, die Arme fixiert und gerade an der Seite des Körpers (traumatisiert?), die andere liegend (scheinbar begraben, aber mit offenen Augen, katatonisch). In Out There on the Slippery Seas (2017) werden Figuren mit starrer Körperhaltung (ist die männliche Figur hinter Gittern?) von breiten Streifen bunter Farbe auseinandergerissen, die sich zu roten Flüssen, Flächen und Bergen formen … aber diese Geschichten stammen von mir selbst … Denn die Komposition stützt sich ebenso sehr auf formale Strukturierung – gleichzeitig hartkantig und geometrisch und wellenartig und weich – wie auf die implizierten Geschichten der isolierten Figuren. Das Ergebnis ist eine ständige Hin-und-Her-Bewegung zwischen möglicher Bedeutung und der Wirkung der formalen Qualitäten des Gemäldes selbst.
Sams Kompositionen bauen stark auf Strukturierung, noch verstärkt durch eine kompromisslose Verflachung des Bildfeldes. Strukturierung ist bezwingend, hat die Macht, das Auge zu fesseln, und Sams Gemälde nutzen genau diese Technik. Sie faszinieren und sind stets komplizierter, tiefgründiger, als es zunächst den Anschein hat.
[1] „Tuangi, neuseeländische Herzmuschel, Austrovenus stutchburyi – ein häufig vorkommendes, rundes, pralles, zweischaliges Weichtier mit gewellter Schale, das direkt unter der Oberfläche von gezeitenbeeinflusstem Schlick- und Sandwatt vergraben zu finden ist. Die Außenseite der Schale ist von hellgrauer Farbe.“ The Maori Dictionary <maoridictionary.co.nz/word/8591> 10. Oktober 2021