© Klett-Cotta, Stuttgart, 2020
Der sich findende und sich verlierende Protagonist wandert aus dem armen Rheinland nach Amerika aus; in der Weltmetropole fasziniert ihn vor allem die noch größere Welt, die sich vor einem Amateurfunker erstreckt, aber gerade dieses Hobby lässt die ausgestreckten Fühler der „Landsleute“ zuschnappen. Gewissenbisse, gar Angst, Schönreden und zögerliche Distanzierungsversuche, dann Festnahme und Internierungslager. Darauf folgen Rückkehr nach Deutschland, Versuche sich an das Heimische anzupassen, das mittlerweile so fremd ist, schließlich das erneute, gar nicht legale Auswandern in die große Welt, deren Sinnbild nur New York sein kann. Diese Stichwörter können aber nur sehr wenig Eindruck davon verleihen, was der empfindungsintensive Text von Ulla Lenze kann.
Abgesehen von der spannenden Zeit und dem geografischen Raum bietet Der Empfänger ein schönes Beispiel, wie facettenreich und überzeugend die Wechselwirkung zwischen dem authentischen historischen Material und der Fiktion sein kann. Die Autorin widmet sich „einem kleinen Mann“, indem sie von einem winzigen Rädchen im Getriebe des Spionagenetzwerks erzählt, von einer freundlichen Person namens Joseph Klein, der Entscheidungen am liebsten still aussitzen würde. Literarisch wurde das Brodeln des Nationalsozialismusgespenstes in New York kurz vor dem Zweiten Weltkrieg und seine organisierten Strukturen nur wenig behandelt (mit der Ausnahme von Steffen Kopetzkys Propaganda). Nicht nur das, in sehr nuancierter sozialer und zwischenmenschlicher Dynamik, sondern auch die Sogwirkung der Metropole, Familiengeschichte und Verhältnisse gleich nach dem Krieg, Spannung zwischen den sehr ungleichen Brüdern oder aber das deutsche Milieu in Argentinien und Costa Rica Anfang der 1950er-Jahre werden erlebbar. Wechselnde Zeitebenen erscheinen nachvollziehbar, weil sie der (Un)logik der menschlichen Erinnerungen gehorchen. Lakonische stimmungsvolle Bilder und große Wirkung des Ungesagten, ohne rechtfertigen oder groß psychologisieren zu wollen. Gut recherchiert, ohne damit zu protzen, und auch poetisch, ohne aufgesetzten Pathos.
Klett-Cotta