Die ersten wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexits waren schnell spürbar. Doch auch die Folgen für den Kulturbereich werden sich bald abzeichnen. Der Präsident des Goethe-Instituts Klaus Dieter Lehmann über die zukünftige Rolle von Kulturinstitutionen, den Wegfall von Förderungen und warum ein Austritt keine Lösung ist.
Junge Menschen, Bewohner von Metropolen und Kulturschaffende haben beim EU-Referendum mit deutlicher Mehrheit gegen den Brexit gestimmt. Was bedeutet die Entscheidung der britischen Wählerinnen und Wähler für die Kulturwelt Europas?
Der Brexit bedeutet einen krassen Einschnitt für die Kulturszene in Großbritannien. Zum einen werden die europäischen Infrastrukturgelder komplett ausfallen, was zu einem bösen Erwachen der Künstler und Kulturleute führen wird, die bislang sehr stark mit europäischen Geldern arbeiten konnten. Die britische Regierung war erfolgreich im Einwerben solcher Mittel, hat aber umgekehrt ihre eigenen Budgets abgesenkt. Das bedeutet schmerzhafte Kürzungen. Zum anderen war durch die europäischen Gelder der Aufbau von Partnerschaften möglich, die einen europäischen Kulturbetrieb unterstützten und damit wechselseitige Lernprozesse initiierten. Das half, ein europäisches Bewusstsein zu stärken. Es ging um Beteiligungsprozesse, nicht um Macht und Konkurrenz.
Unter den jetzt abgeschotteten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen besteht die Gefahr, dass Künstler abwandern. Das wäre für eine demokratische Gesellschaft ein schlimmes Signal. Es wundert mich, dass der Brexit so tagespolitisch behandelt wird: Es ist ein radikaler und tiefer Einschnitt, der einer historischen Zäsur gleichkommt. Das, was in den politischen Auseinandersetzungen gesagt worden ist, war Heuchelei oder das Schüren von Ängsten. Es fehlte eine große europäische Rede, die wirklich unter die Haut geht. Im Grunde ist überall nur Katzenjammer geblieben! Zu Recht, denn es geht nicht um Großbritannien, es geht um Europa!
Ich glaube, die jungen Europäer haben gemerkt, dass das Versprechen Europas, die Pluralität, die Offenheit und die Freizügigkeit einer freien Berufswahl, des Wohnorts und der Niederlassungsmöglichkeiten, nicht nur eine reizvolle Lebensperspektive ist, sondern genutzt werden kann, sein Leben in die Hand zu nehmen, auch in Notzeiten Optionen zu haben. So, wie es beispielsweise die Menschen aus Südwesteuropa gemacht haben, als ihre Arbeitsplätze wegfielen. Sie haben Sprachen gelernt, sind in Länder gegangen, in denen sie bessere Chancen hatten und haben sich qualifiziert. Oder nehmen Sie Polen: Das Land stünde heute nicht so gut da, wenn die Polen nicht die Möglichkeit gehabt hätten, nach England zu gehen und dort zu arbeiten. Und sie wurden ja gebraucht – es war nicht so, dass sie jemandem Arbeit weggenommen haben.
Wie erklären Sie sich, dass es überhaupt zum Brexit gekommen ist? Hat die EU ein Vermittlungsproblem?
Es gibt zwei Vermittlungsprobleme. Das erste hängt damit zusammen, dass sich die EU selber sehr technokratisch sieht und darstellt. Sie bietet Dienstleistungen an, aber das reicht den Menschen nicht aus, um sich zur EU zu bekennen. Wenn überhaupt keine Emotion da ist, wenn kein Thema angesprochen wird, das die Menschen als Europäer empfinden und bekennen lässt, dann ist das einfach zu wenig. Kein Europäer soll sich in einem europäischen Land als Fremder fühlen. Dieses Gefühl einer europäischen Bürgergesellschaft ist wichtig für eine gemeinsame Verantwortung.
Und das Zweite ist: Man hat versäumt zu erklären, dass wir in Europa nicht nur auf einer Insel der Glückseligkeit leben, sondern dass wir auch Verpflichtungen gegenüber dem anderen Teil der Welt haben. Das, was wir jetzt an Zuwanderung erleben, ist politisch nie thematisiert worden. Im Grunde hat man seit 2011 die Augen vor den Toten im Mittelmeer verschlossen und nichts gemacht. Und dann kam plötzlich diese große Zahl von Flüchtenden, auf die man irgendwie reagieren musste. Und da war es schon zu spät. Jetzt haben wir eine Situation, in der Zuwanderung Angst auslöst und wir feststellen, dass nicht strukturiert überlegt wurde, wie wir damit umgehen können. Begriffe wie Solidarität, Humanität, Anerkennung und Respekt kommen in dem Diskurs über Migration im europäischen Maßstab nicht mehr vor.
Offensichtlich haben wir keine gemeinsame Haltung zu Europa. Deshalb ist der Satz, den Cameron gesagt hat – „Wir kehren Europa nicht den Rücken“ – ein falscher Satz. Wenn man sich zu Europa bekennt, dann muss die Gemeinsamkeit gelebt werden. Es darf keine Rosinenpickerei geben. Die Integration Europas gelingt nur durch aktive Teilnahme, nicht durch Flucht aus der Verantwortung. Ja, es gibt Demokratiedefizite und Veränderungsbedarf. Aber man kann nur gestalten, wenn man drin bleibt und nicht, wenn man hinhaut. Und wenn jemand mit Europa unzufrieden ist und deshalb die EU verlässt, dann flüchtet er sich aus der Verantwortung. Ich bin sicher, dass auch andere Länder in Europa mit bestimmten Positionen der europäischen Politik nicht einverstanden sind. Aber warum kämpft man dann nicht für ein besseres Europa, für ein zukunftsfähiges, ein junges Europa? Einfach gehen ist feige.
Sie haben einmal gesagt, dass Europa vor allem ein kulturelles Projekt sei. Was meinten Sie damit?
Ich habe Europa immer in seiner kulturellen Vielfalt gesehen. Blaise Pascal schreibt: „Vielfalt, die sich nicht zur Einheit ordnet, ist Verwirrung. Und Einheit, die sich nicht zur Vielfalt gliedert, ist Tyrannei.“ Genau das erleben wir im Moment. Die Reaktion der Europäischen Kommission auf den Brexit lautet: Wir brauchen mehr Europa – also noch stärker zentralisieren. Das sieht aus wie eine Trotzreaktion. Das ist meiner Meinung nach falsch. Wir müssen sehen, dass Europa kein homogenes Gebilde ist, sondern die unterschiedlichen Kulturen und die Ungleichzeitigkeit Europas ins Blickfeld rücken. Mittel- und Osteuropa haben eine andere Erfahrung als Westeuropa. Das verlangt einen spezifischen und sensiblen Umgang. Den vermisse ich, wenn ich die Verlautbarungen aus Brüssel höre.
Das Goethe-Institut hat in den letzten Jahren immer auf diesen Kulturbegriff gesetzt. Wir haben versucht, die Mehrsprachigkeit in Europa als kulturellen Wert zu fördern. Außerdem haben wir uns dafür engagiert, die Literaturen der einzelnen Länder, die ja im Grunde gesellschaftliches Denken und gesellschaftliches Hoffen widerspiegeln, durch Übersetzungen als europäische Bibliothek zugänglich zu machen. Wir haben Koproduktionen im Bereich Theater, Film und Musik gefördert. Und wir haben an den Goethe-Instituten auch gegen TTIP gekämpft, um Kultur nicht nur unter marktwirtschaftlichen Prinzipien einzuordnen, nur am Nützlichen und Gewinnbringenden zu messen.
Ein kulturelles Projekt Europa bedeutet, dass wir nicht nur auf den Markt setzen dürfen. Kultur ist ein öffentliches Gut und es bedarf geeigneter Rahmenbedingungen, künstlerische Gestaltung zu ermöglichen, auch und gerade neue Ideen zu befördern, ephemere Entwicklungen zu ermöglichen und Risiken einzugehen. Das ist der künstlerische Humus. Meine Befürchtung ist, dass Großbritannien durch den Brexit und die Einsparungen einen Übersprungeffekt marktwirtschaftlicher Prinzipien auf alle Lebensbereiche erleben wird, besonders aber in der Kultur. Die großen Zahlen, der Event, der Boulevard zählt. Habermas hat bei solchen Entwicklungen von einer Kolonisierung unserer Lebenswelten gesprochen – das trifft es auf den Punkt.
Ein Blick in die Zukunft. Wo sehen sie Europa in zehn Jahren?
Ich glaube, wir müssen sehr aufpassen, dass der Brexit nicht Schule macht, da derzeit das Vertrauen in politische Systeme schwindet, eine unzureichende Integrationspolitik zusätzlich Verunsicherung schafft und das ständige Anführen von Sachzwängen – alternativlos – die Frei- und Gestaltungsräume weiter einengt. Wenn wir den Brexit nicht als Signal für ein entwicklungsfähiges, direkteres Europa betrachten, dann sehe ich Europa wirklich gefährdet. Die Zivilgesellschaft muss stärker Einfluss nehmen und gesellschaftliche Verantwortung und partizipatives Verhalten fördern. Europa muss wieder ein Kontinent der Anerkennung, des Respekts und der Diskursfähigkeit werden. Wenn wir das nicht zurückgewinnen, dann geht Europa verloren. Wir müssen als Kulturleute massiv gegensteuern und zeigen, dass die Kulturen zusammenhalten müssen und dass wir eine gemeinsame Verantwortung für einen europäischen Kulturraum haben. Und zwar nicht eine nationale, sondern eine gesellschaftliche Verantwortung. Dann sehe ich Hoffnung! Für das Goethe-Institut ist und bleibt Europa eine vorrangige Aufgabe – es ist seine kreative Basis. Als Mittelland Europas mit neun Nachbarn haben wir eine besondere Verantwortung.