Indigener Rap
„Wir passen in keine Schublade“
Junge Rapper*innen indigener Herkunft fassen Fuß in der Musikszene Brasiliens und schaffen sich eine Fan-Basis. Sie betonen die eigene Herkunft und prangern Gewalt auch in ihren eigenen Gemeinschaften an. In sozialen Netzwerken begegnen sie damit Vorurteilen und Hass. „Es ist Musik, die den Zustand der Dinge in Frage stellt“.
Von Ana Paula Orlandi
Retomada (Wiederaufnahme / Wiederaneignung) heißt das Album, das 2022 von Brô (Brothers) MCs herausgebracht werden wird. Brô MCs ist eine Rap-Gruppe. Sie besteht aus zwei Geschwisterpaaren aus dem Volk der Guarani-Kaiowá: CH und Kelvin Mbarete, die im Dorf Bororó leben, sowie Bruno Veron und Clemerson Batista aus dem Nachbardorf Jaguapiru. Diese Gemeinschaften mit um die 16.000 Personen liegen im 1971 geschaffenen indigenen Reservat Dourados im Bundesstaat Mato Grosso do Sul, einem der Schwerpunkte des brasilianischen Agrobusiness. „Wir möchten unsere Realität und die Gewalt anprangern, die unsere Gemeinschaft erleidet. Eines unserer Stücke heißt Terra Vermelha (Rote Erde). Es ist davon inspiriert, dass es heißt, hier sei die Erde so rot, weil in Mato Grosso do Sul so viel Blut indigener Völker vergossen wurde“, sagt Veron und fügt hinzu: „Wir kämpfen um unser Existenzrecht“.
Der Titel der Platte, mit dem auch eines der Lieder betitelt ist, bezieht sich auf die in den 1970er-Jahren von indigenen Führungspersönlichkeiten angestoßene Bewegung zur Wiedererlangung angestammter Gebiete in Mato Grosso do Sul. Diese Territorien waren von der öffentlichen Hand insbesondere seit Ende des 19. Jahrhunderts an Nicht-Indigene wie etwa Landwirte übertragen worden. Das Land ist bis heute umkämpft: Mato Grosso do Sul ist der Bundesstaat, in dem zwischen 2003 und 2019 brasilienweit die meisten indigenen Personen getötet wurden, so eine Erhebung des gemeinnützigen sozioökologischen Instituts Socioambiental mit Sitz in São Paulo, das sich für indigene Gemeinschaften sowie Quilombos einsetzt. Unter den Opfern ist auch der Großvater von Bruno Veron und Clemerson Batista, der indigene Anführer Marcos Veron, der 2003 im Zuge von Landstreitigkeiten ermordet wurde.
Vorurteile wohin man sieht
Die seit 13 Jahren aktiven Brô MCs bezeichnen sich selbst als „die erste indigene Rap-Gruppe Brasiliens“ und reimen überwiegend auf Portugiesisch und Guarani, wie zum Beispiel in Eju Orendive, das auf Youtube bereits mehr als 480.000 Aufrufe hat. Passend zur Veröffentlichung ihrer neuen Platte (der ersten in dieser Formation als Quartett) traten CH, Kelvin Mbarete, Bruno Veron und Clemerson Batista im September 2022 auf der ersten Rap-Nacht des Rock in Rio auf, dem größten Musikfestival Brasiliens. Sie standen dabei mit Xamã auf der Bühne, einem in Rio geborenen und aufgewachsenen Rapper indigener Herkunft, der 2021 die Spitze der Spotify-Charts stürmte.Es war nicht leicht, eine solche Akzeptanz zu erlangen. Widerstände gegen Rap von Indigenen kämen von mehreren Seiten, sagt Veron: „Als Brô MC anfing, hatten wir mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. Und das sowohl innerhalb unserer indigenen Gemeinschaft als auch in der brasilianischen Hip-Hop-Szene. Es hat eine Weile gebraucht, bis wir akzeptiert wurden“, erzählt er. „Aber der Rap kennt keine Grenzen. Sein Kern ist derselbe, egal wo. Rap prangert an und ist Aktivismus. Es ist Musik, die den Zustand der Dinge in Frage stellt.“
Dem Machismus begegnen
Inzwischen kennt die brasilianische Hip-Hop-Szene auch andere Namen indigener Künstler*innen, wie etwa MC Anarandá, ebenfalls aus dem Volk der Guarani-Kaiowá. Noch ohne eigene Platte veröffentlichte die Rapperin im vergangenen Jahr den Videoclip Feminicídio (Femizid), mit dem sie an den Tod einer Freundin erinnert. „Es reicht mit der Folter, zerstochenen Körpern. Genug der blutigen Gesichter der Frauen. Schluss damit, dass Frauen gedemütigt werden. Schluss mit den gebrochenen Herzen von Frauen“, singt sie.In Anarandás Texten mischen sich Portugiesisch und Guarani. Sie erzählen von Dingen, die indigene Frauen betreffen. „Machismus gibt es überall, auch in den Dörfern. Die Männer denken, wir können nichts anderes, als uns um Kinder und Haushalt zu kümmern, aber wir sind geboren um frei zu sein und um das zu tun, was uns gefällt“, erklärt die Rapperin, die ihre Arbeit im Internet veröffentlicht. „Ich bin eine unabhängige Künstlerin und kümmere mich um alles allein, aber man muss für die Präsenz in sozialen Netzwerken auch psychologisch gewappnet sein. Dort wimmelt es von rassistischen, vorurteilsbehafteten Kommentaren und haters. Es gibt in unserem Land sehr viel Hass gegen Indigene. Es gibt Leute, die meinen, wir sollten nicht auf Universitäten, in sozialen Netzwerken sein oder auf der Bühne stehen. Oder, dass wir keinen Rap machen sollten, weil er nichts mit unserer Kultur zu tun habe“, stellt sie fest.
Stolz auf die eigene Sprache
Mit 25 Jahren ist Anarandá Mutter eines fünfjährigen Jungen und zudem verantwortlich für zwei heranwachsende Nichten im Dorf Guapoy im Landkreis Amambai, Mato Grosso do Sul. Um die Familie zu ernähren, arbeitet sie als Guarani-Lehrerin, spricht in Schulen der Region über kulturelle Vielfalt und wirbt auf ihren Kanälen im Netz für lokale Geschäfte. Außerdem beteiligt sie sich am Projekt Voa parente des Musiklabels Azuruhu, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Arbeit von Künstler*innen unterschiedlicher Ethnien und Musikstile zu fördern.Das erste Resultat dieses Projekts erschien im vergangenen Januar: das Video Tente entender (Versuche zu verstehen), der Gruppe Nativos MCs. Die 2021 gegründete Trap-Gruppe besteht aus Macc JB, Urysse Kuykuro e Pajé MC – alle drei aus der Ethnie Kuikuro und dem Dorf Afukuri am oberen Xingu im Bundesstaat Mato Grosso. „Unsere Reime tragen mit Stolz unsere eigene Sprache. Die indigenen Sprachen sind lebendig, auch wenn sogar viele Indigene glauben, sie seien gestorben. Der Rap ist Ausdruck dieser Vitalität“, sagt Urysse Kuykuro. „Bei unseren Auftritten tragen wir Halsketten, Federschmuck, Armbänder und färben die Haare mit Urucum. Unser Körper ist politisch und vermittelt ebenfalls eine Botschaft von Kampf und Beständigkeit“.
Verbindung zu Ursprüngen
Die Wiederaneignung der indigenen Vorfahrenschaft bestimmt auch die Tonlage auf Ritual, der ersten Platte der Rapperin Souto MC, die vor 27 Jahren in der Peripherie von São Paulo zur Welt kam, wo sie bis heute lebt. Die 2019 veröffentlichte Platte beginnt mit einem Gedicht der Künstlerin, vorgetragen von ihrem in São Paulo lebenden Vater Pedro Neto, der als Abkömmling der Kariri aus dem Bundesstaat Ceará im Nordosten Brasiliens stammt. Darauf folgt das Stück Caça e caçadora (Jagd und Jägerin), in dem es um die Suche nach der eigenen Identität geht.Die Künstlerin versteht Ritual als Gemeinschaftswerk. „Es ist eine Platte, auf der es um meinen sehr intimen Prozess der Wiederherstellung einer Verbindung mit meiner Herkunft geht und den Versuch, mit Personen zu sprechen, die die gleiche Erfahrung machen wie ich. Zu Hause reden wir durchaus über die indigenen Wurzeln unserer Familie, aber eher oberflächlich. In den letzten vier Jahren habe ich beschlossen, tiefer einzutauchen in diese Geschichte, um meinen eigenen Platz darin zu begreifen“, erzählt Souto, die auf zehn Jahre Musikkarriere zurückblickt, fast ausschließlich im Rap.
2015 komponierte sie aber auch einige Sambas, wie etwa Altamira, das ebenfalls auf Ritual zu hören ist. „Die Indigenen leben nicht nur in Brasilien, sondern auf der ganzen Welt in den Peripherien der Großstädte. Hier wird Samba gehört, Rap und Funk, und das beeinflusst auch unseren Sound. Wir passen in keine Schublade“, stellt sie abschließend fest.