Jamele Watkins
Das Drama und das Archiv: Solidarität in Europa
Während eines Vortrags im April 2018 in San Francisco sagte Angela Davis, dass die Solidaritätskampagnen ihr das Leben gerettet hätten. [1] Während Davis von 1971 bis 1972 vor Gericht stand, fanden sie weltweit statt, unter anderem in verschiedenen Ländern Asiens, Afrikas und Europas. [2] Als Germanistin liegt hier mein Schwerpunkt. Dieser Aufsatz analysiert die groß angelegte Kampagne für Solidarität und wie sie materiell zum Ausdruck gebracht wurde. Anhand bisheriger Archivtheorien betrachte ich neben den darin enthaltenen Materialien auch weitere Fragen rund um das National United Committee to Free Angela Davis and All Political Prisoners Archiv an der Stanford University in Palo Alto, Kalifornien. Lisa Lowes Argument, quer durch Archive zu lesen, ermutigte mich, dieses Archiv in Palo Alto im Kontext anderer Archive zu betrachten und die Art und Weise zu erforschen, wie Katalogisierung und Organisation Machtdynamiken widerspiegelt. [3] Um ein umfassenderes Bild des Archivs zu erhalten und, um es nicht als vollständige Quelle zu betrachten, habe ich andere Beteiligte interviewt. Die Fragen, die wir an das Archiv richten, müssen letztlich nicht nur in Bezug auf seine Materialien gestellt werden, sie müssen auch die Machtstrukturen miteinbeziehen, die diese Materialien entstehen ließen und offenlegen, wie dadurch unserer Gegenwart konstituiert wird.
Von Jamele Watkins
Diese Archivmaterialien existieren aufgrund der Arbeit von Fania Davis in Europa. Als Davis’ Schwester war sie in zahlreichen Ländern maßgeblich daran beteiligt, für sie Unterstützung zu mobilisieren. Dieses Archiv ist der radikale Beweis dafür, dass Menschen auf der ganzen Welt glaubten, sie könnten ein unterdrücktes Individuum retten. Ein solch sozialer Aktivismus erlaubte es den Teilnehmer*innen sich selbst als Retter*innen der „lieben Angela“ neu zu sehen. Durch das was im Archiv verhandelt wird, die verschiedenen darin vorhandenen Orientierungen und die Neuzusammenstellungen der in ihm aufbewahrten Materialien, ist es genauso voller Dramatik wie der Gerichtsprozess selbst.
Europäische Solidarität mit Schwarzen Frauen in den Vereinigten Staaten ist nicht neu. Im Jahr 1904 sprach die Feministin, Bildungsaktivistin und Anti-Lynchmord-Aktivistin Mary Church Terrell auf dem Internationalen Frauenkongress in Berlin. Sie hielt eine Rede auf Französisch und Deutsch, in der sie erklärte, dass über das Leben Schwarzer Frauen nicht berichtet wurde und das Fehlen eines Archivs zur Dokumentation ihres Vorankommens dazu beitrug, Schwarze Stimmen zum Schweigen zu bringen und ihre Stereotypisierung aufrecht zu erhalten. Terrell schloss ihre Rede mit der Bemerkung, wenn nur wenige Frauen anfingen sich um das Leben afroamerikanischer Frauen zu kümmern, hätte sich ihre Reise bereits gelohnt. [4] Church Terrell stammte aus einer wohlhabenden Familie, aber nicht alle afroamerikanischen Aktivist*innen waren so gut situiert. Ada Wright [5] führte in den 1930er Jahren in Deutschland, Österreich und der Schweiz eine Kampagne für die Scottsboro Boys durch. [6] In der gleichen Tradition der Schwarzen feministischen Intervention sprach Fania Davis auf Kundgebungen in ganz Europa und forderte die Menschen auf, Petitionen für ihre Schwester in Kalifornien zu schreiben und zu verschicken. Wie Mary Church Terrell suchte auch Fania Davis nach Verbündeten, die sich mobilisierten und sich für eine Schwarze Frau in den Vereinigten Staaten engagierten. Die Bilder von der Verhaftung von Fania Davis während der Proteste in Palo Alto brachten mehr Bewegung in die Angelegenheit. [7] Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass dieses Archiv als ein Akt familiärer und feministischer Intervention begann. Von Anfang an wurde das Archiv zusammengestellt um radikalen Widerstand gegen den prekären Status quo zu leisten, der den Schwarzen in der Vergangenheit und Gegenwart der Vereinigten Staaten zugewiesen wurde und wird.
Aufgrund der sechswöchigen aktivistischen Arbeit von Fania Davis in Europa im Jahr 1971, [8] strömte bald viel Material nach San Jose, wo Angela Davis im Gefängnis festgehalten wurde. Hier wurde es von ihrem Team gesammelt. Briefe, Petitionen, Geschenke, Zeichnungen und Bilder von den Orten, an denen Fania Davis sprach: Rom, Paris, Moskau, London, Warschau, Helsinki. Diese Bürger*innen sahen sich auf der Seite der Gerechtigkeit und beteiligten sich auf vielfältige Weise an der Kampagne. Demonstrationen und Kundgebungen waren weitere Möglichkeiten, wie die Menschen auf den Aufruf von Fania Davis zum Handeln für ihre Schwester reagierten. „6.000 Menschen hatten in Florenz für Angelas Freiheit demonstriert“, gab sie an, „7.000 in Bologna, 4.000 in Frankfurt, 3.000 in Hannover, 3.000 in London und weitere Zehntausende in Berlin, Moskau, Leningrad, Sofia und Budapest.“ [9] Aus Österreich kamen die Briefe vor allem von Kommunist*innen (Einzelpersonen, Gruppen und Vorsitzende von Ortsgruppen) und Frauengruppen. Davis erhielt Geburtstagskarten und Weihnachtsgrüße aus der Schweiz, darunter eine bemerkenswerte Sammlung von Briefen von Mittelschüler*innen aus Zollikofen. Die Briefe sind ein bis drei Seiten lang und enthalten verschiedene Fragen an Davis, zum Beispiel über Bobby Seal, wie sich ihre Ideen mit denen der Black Panther Party for Self-Defense überschneiden, Fragen zu Waffen und wie sie im Gefängnis behandelt werde. Die schwedischen Briefe umfassen zwei verschiedene Postkartenaktionen (eine davon von der Arbetsgruppen för Angela Davis in Stockholm). Nur drei Briefe kamen aus Norwegen, aber dreizehn Briefe und Postkarten aus Dänemark. Die Niederlande schickten Karten mit Rosen auf dem Umschlag und viele Briefe und Petitionen darüber, wie der Fall Angela Davis die Sicht des Landes auf die Vereinigten Staaten verändere. Die Briefe aus Italien füllen eine ganze Kiste. Es gibt Postkarten auf denen steht „Salviamo la vita ad Angela Davis“ (Retten wir das Leben von Angela Davis) und „Siamo con te Angela“ (Wir sind mit dir, Angela). Es gab auch Stadtansichten aus Nichelino, Rom und Venedig. Viele dieser Postkarten waren an Fania Davis in Los Angeles adressiert, was zeigt, dass sie nach ihren Kundgebungen in Europa angekommen sein müssen. Im sozialistischen Osten Deutschlands wurde die „Freiheit für Angela Davis“ Kampagne sowohl auf staatlicher als auch auf lokaler Ebene durchgeführt. Davis’ kommunistische Überzeugungen und ihre Mitgliedschaft im Che-Lumumba Club der Kommunistischen Partei der USA halfen dabei und so avancierte sie schnell zu einem Symbol des „anderen Amerikas“, d. h. zu einem Symbol des nichtkapitalistischen Amerikas. [10] Die Regierung nutzte die Gelegenheit, sich mit Davis zu verbünden, auch um eine antiimperialistische und antikapitalistische Kritik an Westdeutschland und den Vereinigten Staaten zu artikulieren. Die Ostdeutschen wurden ermutigt, Briefe, Postkarten, Geschenke, Petitionen und Spruchbänder einzusenden, deshalb sind die ostdeutschen Materialien des Archivs am umfangreichsten, gefolgt von Materialien aus der UdSSR. Der Staat war Schirmherr der Kampagne „1 Million Rosen für Angela“, bei der eine Million Postkarten an Davis zu ihrem Geburtstag versendet werden sollten. Schüler*innen, Erwachsene, im Ausland lebende DDR-Bürger*innen, Fabrikarbeiter*innen und sogar Besucher*-innen von Gedenkstätten von Konzentrationslagern wie Sachsenhausen beteiligten sich an der Bewegung. Die aus Sachsenhausen verschickten Postkarten bekräftigten das Selbstbild der Gedenkstätte als Lager für politische Dissidenten (die hauptsächlich Kommunist*innen waren); ein Image, das für die Formulierung der ostdeutschen Identität nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend war (ein Selbstverständnis also, das die Tatsache herunterspielte, dass vor allem Juden in diesem Lager ermordet oder in andere Lager transportiert wurden, um dort ermordet zu werden). [11] Zu den weiteren Dokumenten im Archiv gehören große Plakate und Banner, die jeweils von zwei Personen gehalten werden müssen. Sie allein nehmen aufgrund ihrer Größe ganze Tische ein und die schiere Menge des Materials ist überwältigend. Es wurde zunächst willkürlich in Kisten geworfen, was für den derzeitigen Archivar und die Bibliothekarin, die damit beschäftigt sind Ordnung zu schaffen, viel Arbeit bedeutet. Das Davis-Archiv ist irritierend und unbändig, wie ein Teenager.
Auch die westdeutschen Briefe nehmen eine ganze Kiste in Anspruch. In ihr befinden sich Briefe von Kommunist*innen, Weihnachtskarten und Geburtstagsgrüße. In Westdeutschland gab es zwei Postkartenaktionen zum 28. Geburtstag mit Nelkenmotiv. Hinter einer der Postkartenaktionen stand das Hamburger Komitee zur Wahrung demokratischer Rechte. Einzelne Postkarten wurden auch aus Tübingen, Reutlingen, Hattingen-Ruhr, Solingen, Düsseldorf, Wuppertal und Frankfurt am Main verschickt. Davis wurden sogar nach ihrem Freispruch Karten geschickt. Interessanterweise fordern einige der Briefe Davis auf, zurückzuschreiben, ein Autogramm oder Bilder zu schicken oder gar zu Besuch zu kommen.
Die oben beschriebene Korrespondenz wird an der Stanford University verwahrt. Es ist mit Sicherheit ein Archiv im Entstehen und enthält etwa 210 Kisten mit Material aus der ganzen Welt. Es befindet sich außerhalb des Campus, getrennt von den anderen Sonderbeständen (die sich auf dem Campus in der Bibliothek befinden). Jedes Mal, wenn ich das Archiv besuche, steht ein neuer Stapel von Kisten auf den bereits vorhandenen Materialien. Die Dinge im Archiv ändern sich schnell, weil verschiedene Personen gleichzeitig daran arbeiten. Meine Aufgabe ist es, diese Kisten zu durchsuchen und neue und unterschiedliche Materialien zu finden. Während der Zeit meiner Forschung lagen Teile der Sammlung in Stapeln auf Tischen: Banner, Gegenstände und Geschenke, Briefe aus der DDR, Briefe von anderswo, Petitionen, Materialien der Black Panther Party, Plakate und Kunstwerke von Kindern. Der schiere Umfang des Archivs ist einschüchternd und beunruhigt mich, was auch damit zusammenhängt, dass ich dem Projekt und vor allem Davis selbst gerecht werden will. Darüber hinaus beunruhigt mich die neoliberale Zeitlichkeit hinsichtlich der Dauer, die eigentlich benötigt würde, um jeden Brief und jedes Objekt in der Sammlung – von denen viele heute noch ungeöffnet sind – genau zu untersuchen. Normalerweise würden die Archivar*innen oder die studentischen Mitarbeiter*innen die Briefe öffnen, um sie zu katalogisieren oder zu organisieren. Aber da ich in diesen normalerweise für die Öffentlichkeit verschlossenen Bearbeitungsraum willkommen geheißen wurde, öffne ich viele dieser Briefe zum ersten Mal.
Obwohl ich nicht zum Zielpublikum gehöre, weil ich nicht Angela Davis bin und mich zeitlich fünfzig Jahre von den Geschehnissen entfernt befinde, öffne und lese ich den Inhalt dieser Briefe. Ich konnte so einzigartige Erfahrungen machen beim Lesen dieser Dokumente, die noch niemand zuvor gelesen hat. Sie rufen Reaktionen in mir hervor; ich schnappe nach Luft oder lache, wenn ich den Inhalt dieser Materialien lese, der vor Jahrzehnten für Davis bestimmt war. In einem Bürogebäude in Redwood City in der Gegenwart erblicke ich so intime Details, die wirklich nie für mich bestimmt waren. Es würde die Briefschreiber*innen möglicherweise enttäuschen, dass Davis den Brief nicht geöffnet hat; dennoch haben sie eine Bedeutung, die über ihren ursprünglichen Zweck hinausgeht. Das Archiv, das Davis einst aus dem Gefängnis befreien sollte, wirkt wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Es ist ein Beweis der Mobilisierung für Davis, kann aber auch als eine verpasste Gelegenheit gesehen werden, den von Davis geforderten Kampf für Gerechtigkeit fortzusetzen. Die Kampagne sollte alle politischen Gefangenen befreien, endete jedoch kurz nach Davis’ Freilassung. Wenn ich mir diese Dinge im Jahr 2020 ansehe, weiß ich, dass diese Art der Solidaritätsbewegung heute nicht möglich wäre. Bewegungen haben sich stärker lokalisiert und innerhalb nationaler Grenzen entwickelt. Im Jahr 1971 ist das Archiv jedoch ein Beweis für die transnationale Solidarität, die durch die kommunistische Ideologie verbunden ist (wenn auch mit einigen weißen Retter*innen-Tendenzen). Wir müssen zwar den erzwungenen Charakter eines Teils dieses Archivs berücksichtigen, aber die schiere Zahl der Briefe, Geschenke und Postkarten zeigt, dass es über die staatlich vorgeschriebene Kampagne hinaus echte Liebe und Anteilnahme gab.
Das Archiv kam 1974 an die Stanford University, hauptsächlich aus dem Keller der Historikerin Bettina Aptheker in San Jose. [12] Aptheker, Professorin für Frauen- und Genderstudien an der University of California Santa Cruz, bewahrte das gesamte Material auf. Sie erklärte: „Es stand mir nicht zu, es wegzuwerfen.“ [13] In Stanford hat diese Sammlung Staub angesetzt. Nachdem das Archiv über vierzig Jahre lang sich selbst überlassen wurde, wird es heute endlich bearbeitet. Es durchläuft derzeit einen Prozess der Sortierung, Organisation, Kuratierung und Katalogisierung, so dass die Objekte innerhalb der Sammlung für Forscher*innen und Laien gleichermaßen durchsuchbar sein werden. Es handelt sich um ein Archiv im Werden, das sich in einer Weise manifestiert, die das Archiv selbst, das Thema und die Forscher*in komplizierter macht.
Immer mehr Forscher*innen diskutieren nicht nur die im Archiv vorgefundenen Materialien, sondern auch über die körperliche Erfahrung des Archivs. [14] Tina Campt zum Beispiel berichtet in ihrem Buch „Listening to Images“ von ihren Erfahrungen beim Besuch von Archiven in einem Kellergeschoss. Campt schließt so Gespräche mit Archivar*innen ein, die einige Wissenschaftler*innen vielleicht lieber auslassen würden; sie spricht weiterhin über ihre Sorgen und Ängste in dem physischen Raum. Diese körperliche Erfahrung inspirierte mich dazu, meine Archivbesuche transparenter zu gestalten. Im Davis-Archiv gibt es in jeder Hinsicht eine Flexibilität, wie ich handeln, mich verhalten und in jeglicher Hinsicht einfach nur ich selbst sein kann, in meinem eigenen Körper. Ich weiß, dass ich diese Freiheit habe, weil ich eine vertrauenswürdige Wissenschaftlerin bin. Meine Position ist eine privilegierte, obwohl Davis’ Materialien so lange nicht privilegiert waren und wertgeschätzt wurden. Ich habe in diesem archivarischen Bearbeitungsraum eine Freiheit, die mir in einem traditionellen Sondersammlungsbereich in der Bibliothek nicht zugestanden werden würde: Ich nehme den ganzen Raum ein, den ich brauche. Ich stehe, ich liege oder gehe in die Hocke. Ich werde nicht beobachtet; ich muss meine Sachen nicht vorab in einem Schließfach einschließen; man vertraut mir und lässt mich in Ruhe. Keine anderen Wissenschaftler*innen schauen mich dabei an oder ermahnen mich zur Ruhe. Ich kann auf meinem eigenen Papier (!) mit Feder (!) schreiben. Meine Erfahrung mit dem Archiv ist einzigartig, da ich die Entwicklung des Archivs miterlebe, bis es vollständig bearbeitet ist.
Textur und Geräusch spielen im Archiv eine Rolle. Ich schwelge fast in all den Klängen in diesem Raum – dem Geräusch meiner Füße auf dem Boden, dem Rascheln der Plakate und sogar den Geräuschen, die ich beim Lesen der Briefe mache. Der weiße Boden quietscht, wenn ich auf seinem rutschfesten, strukturierten Linoleum gehe. Die Materialität der großen Stoffplakate variiert von weich und durchsichtig, über Papier bis hin zu einer Art rauen gewebten Geflecht. Diese Plakate knarren und sind dumpf, wenn ich sie anhebe, um auf die Plakatstapel darunter zu schauen. Papierplakate quellen hervor, wenn ich sie vorsichtig zur Seite bewege, weil ich um den Erhalt des Stückes fürchte. Die Plakate aus hauchdünnem Stoff schweben wie Geister; ich denke an die Geduld der Menschen, die auf diesem undankbaren Stoff Porträts von Davis und Unterschriften gezeichnet haben, und frage mich, was sie sich dabei gedacht haben. Diese Geräusche und Texturen machen meine archivarische Erfahrung bedeutungsvoll und einprägsamen.
Der Archivierungsprozess (die Katalogisierung) geschieht zeitgleich mit der Bewertung der Wichtigkeit dieser Materialien. Ich überlege, was es heißt, sich durch Archive zu graben und was diese Materialien bedeuten, während das Archiv selbst sortiert und bearbeitet wird. Zum Glück habe ich die Gelegenheit, die Objekte in ihrer Gesamtheit vor mir ausgebreitet zu erleben, bevor die Dokumente kuratiert werden und etwas weggeworfen wird. Ich füge mich komplett in dieses Archiv ein und es widersteht mir durch seine Größe und durch die Art, wie es sich mir immer wieder neu offenbart. Der Archivar entscheidet über die Reihenfolge und die Materialien, die aus der Lagerhalle kommen, aber zusammen mit ihm arbeite ich daran sie bei ihrer Reorganisation neu zu gestalten. Meine Arbeit dokumentiert die verschiedenen Formen, die das Archiv wörtlich und bildlich angenommen hat. Da ich mich in diesem Raum befinde und über diese Flut von Mitgefühl aus der ganzen Welt Rechenschaft ablege, kam ich nicht umhin, über dieses Erbe der transnationalen Solidarität nachzudenken. Das Archiv zeigt, wie einflussreich Davis auf Menschen war, denen sie nie begegnet ist, und die Menge des Materials zeigt, welche Anforderungen es an die Zeit und Energie der Archivare stellt.
Dieses Archiv ist eine endlose Entdeckungsreise. Bibliothekar*innen fanden Kisten an Orten, wo sie nicht hingehörten. Das Archiv „taucht“ buchstäblich auf, damit es nicht vergessen wird. Als ich das Archiv besuchte, fiel mir auf, wie viele verschiedene Seiten diese große Sammlung hat. Die Größe des Archivs lässt es in vielerlei Hinsicht unüberschaubar erscheinen. Es ist nicht nur die bloße Anzahl der Objekte, auch die Materialien selbst sorgen für Irritationen, aufgrund ihrer Größe, ihrer ungewöhnlichen Formen oder ihrer einzigartigen Verpackung. Dinge wie röhrenförmige Päckchen, deren Empfang für das Gericht sicherlich ärgerlich waren, machen die Bearbeitung für die Archivar*innen heute schwierig, da einige Objekte nicht ohne weiteres in die vorgegebenen Einheiten für die Archivierung passen. Dieses unbequeme und widerspenstige Material weigert sich, einfach „hineinzupassen“ und verbietet eine einfache Kategorisierung. Das Archiv leistet heute genauso Ungehorsam wie seine Materialien zu seiner Zeit.
Das ist das definitive Drama des Angela-Davis-Archivs. In ihrer Verbundenheit haben die Europäer*innen – geteilt durch die Ideologie des Kalten Krieges – Solidarität durch das Schreiben von Briefen, das Versenden von Postkarten, das Marschieren in Demonstrationen und die Teilnahme an Kundgebungen gezeigt. Diese Unterstützer*innen sahen sich auf der Seite der Gerechtigkeit. Darüber hinaus bewirkten die Materialien des Archivs Gesetzesänderungen – wegen ihnen wurde Davis gegen Kaution freigelassen. Die fortlaufende Wiederzusammensetzung des Archivs dehnt die Grenzen dessen weiter aus, was es in Zukunft sein kann. Das Archivmaterial bringt den Raum und die Menschen in ihm aus dem Gleichgewicht; das Archiv ist in Größe und Material unbändig. Dieses Archiv ist voller Höhen und Tiefen, Drehungen und Wendungen, die von mir Bezeugung und Teilnahme verlangen und mich manchmal sogar zur Zuschauerin machen. Das Wort „Drama“ vermittelt die Aufmerksamkeit, die das Archiv abverlangt, die Interaktion anderer innerhalb des Archivs und die Besonderheit dieses Gefängnisarchivs von Davis. Denn auch nach Jahren ist das Archiv noch immer so nebulös wie eh und je. Das Drama dieses Archivs verlangt Aufmerksamkeit – und für mich entfaltet sich das Drama weiter.
Autorin
Jamele Watkins ist Postdoc-Stipendiatin für Germanistik an der Stanford University und Assistenzprofessorin an der University of Minnesota, Twin Cities. Sie beschäftigt sich mit den Überschneidungen von Race und Geschlecht in Deutschland im 20. und 21. Jahrhundert.
Ihr aktuelles Buchprojekt Roses for Angela untersucht die transnationale Solidarität der DDR mit Angela Davis. In ihrer Dissertation The Drama of Race untersuchte sie die Art und Weise, wie Schwarze Deutsche ihre Geschichten auf der Bühne sichtbar machen. Ihr Interesse gilt der visuellen Kultur, dem Feminismus und dem transnationalen Aktivismus.