Inspirador
Wie Lissabon gebrauchte Fahrräder auf die Straße bringt

Ein Fahrrad lehnt an einer Ladenwand in Lissabon
Gerade in Pandemiezeiten greifen viele Menschen auf das Fahrrad zurück | Foto (Detail): © Cicloficina dos Anjos

Während der Pandemie fehlte es vielen Bürger*innen Lissabons an Mobilitätsangeboten, die die notwendige räumliche Distanzierung gewährleisten. Die Lösung: Alte Fahrräder werden repariert, um sie wieder auf die Straße zu bringen, wo sie denen zugutekommen, die sie am meisten brauchen.

Von Jonaya de Castro und Laura Sobral

Der Inspirador ist ein Projekt, mit dem Ziel, nachhaltige Städte neuzudenken, indem es inspirierende Beispiele aus mehr als 32 Orten auf der ganzen Welt identifizierte und präsentierte. Die Forschung systematisiert die Fälle und Ideen in verschiedene Kategorien, gekennzeichnet durch Hashtags.
 
#zusammenarbeit_intensivieren
Von einigen als „Zukunftsbeschleuniger“ bezeichnet, zwingt uns die COVID-19-Pandemie nicht nur dazu, kulturelle Pläne neu zu bewerten, sondern auch nach Fragen und Antworten zu suchen, unter anderem was das Bewusstsein um  die Intensität der Klimakrise, die Stärkung von Solidaritätsnetzwerken sowie die allgemeine Digitalisierung anbelangt. Eine Zukunft, die einst unvermeidbar schien, zeigt bereits erste Anzeichen eines Bruchs. Städte haben das kollektive Handeln revolutioniert. Sie arbeiten mit neuen Zeiträumen, mobilisieren ein breites Spektrum an Akteur*innen und zeigen uns dabei neue Möglichkeiten auf, wie wir schon heute die Welt von morgen gestalten können.


Dinge zu reparieren, anstatt sie neu zu kaufen, ist heutzutage ein geradezu revolutionäres Konzept. Viele Produkte sind so konzipiert, dass sie nach kurzer Zeit nicht mehr funktionieren, um uns dazu zu bewegen, neue zu kaufen und uns der Illusion hinzugeben, dass die Ressourcen des Planeten unerschöpflich sind.
 
Die Mitarbeiter*innen von Cicloficina dos Anjos schwimmen gegen den Strom, indem sie sich vorrangig der Reparatur von Fahrrädern widmen, um ihre Nutzungsdauer zu verlängern und sie wieder auf die Straße zu bringen. Mit ihrem neuen Projekt SELIM – Banco de Bicicletas (Fahrradbank) sammeln sie gebrauchte Fahrräder, reparieren sie und stellen sie Bedürftigen im Rahmen eines langfristigen Leihvertrags zur Verfügung.
 
Das Kollektiv Cicloficina dos Anjos wurde 2011 mit dem Ziel gegründet, Radfahrer*innen zu Selbstversorger*innen zu machen, indem sie lernen, ihre eigenen Fahrräder kostenlos zu reparieren. Die Idee entstand ganz spontan aus der Lissabonner Fahrradgemeinde heraus. „Damals gehörten wir alle zu jenen Verrückten, die mit dem Fahrrad durch die Stadt fuhren – es gab keine Radwege oder ähnliches. Die Gruppe war schon immer durch die Liebe zum Fahrrad verbunden“, sagt Mitgründer Nuno Pinhal.
 
Im Laufe der Zeit wurden soziale Fragestellungen und Nachhaltigkeitsthemen immer wichtiger für die Gruppe, was sie dazu animierte, die Förderung der aktiven Mobilität in der Stadt sowie ein alternatives, menschenfreundlicheres Modell von Urbanismus anzustreben.

Fahrräder als öffentliche Politik  

Das SELIM-Projekt entstand als Reaktion auf die veränderten Umstände im Zuge der Pandemie: „Angesichts der Notwendigkeit der räumlichen Distanzierung in Portugal mussten wir plötzlich innehalten, uns umschauen und uns fragen: ‚Was können wir tun?‘“, erzählt Nuno. Viele Menschen hatten ihre Arbeit verloren und brauchten eine günstige Alternative, um sich in der Stadt fortzubewegen. Zudem barg die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ein erhöhtes Risiko, sich der Pandemie auszusetzen. „Also wollten wir etwas dagegen tun“, sagt Nuno, „eine Alternative finden. Oder besser noch, Fahrräder als Alternative zur Verfügung zu stellen“.
 
Cicloficina legte dem Stadtrat von Lissabon eine Reihe von Vorschlägen vor, zu denen auch das Projekt SELIM gehörte, welches nun sowohl durch öffentliche Fördermittel der Stadt als auch durch Bereitstellung von Räumlichkeiten durch den Gemeinderat des Bezirks Arroios unterstützt wird.
 
Das Projekt sammelt Fahrräder ein, die sich meist am Ende ihrer Nutzungsdauer befinden und von ihren Besitzer*innen gespendet werden und bereitet sie so auf, dass sie wieder benutzt werden können. Die Idee dahinter ist, den Lebenszyklus dieser Fahrräder so lange wie möglich zu verlängern und gemeinsam zur Abfallvermeidung beizutragen.
 
Für einen symbolischen Betrag, der zwischen 10 und 30 Euro ausmacht – die Hälfte davon ist eine Kautionsgebühr, die bei Rückgabe des Fahrrads zurückerstattet wird – kann man das Fahrrad so lange nutzen, wie man es braucht. Interessierte können sich auch registrieren lassen, um ein Fahrrad langfristig zu mieten, sobald es aufgearbeitet ist. Wenn die Anwender*innen das Fahrrad bis zum Abschluss der ersten Projektphase Ende 2021 nicht zurückgeben, können sie auf die Rückerstattung der Kaution verzichten und das Fahrrad ohne zusätzliche Kosten für sich behalten. Wenn sich jemand dazu entscheidet, ein Fahrrad zu behalten, so bedeutet dies, dass das Projekt sein Ziel erreicht hat: die Nutzung von Fahrrädern als reguläres Transportmittel zu demokratisieren.
 
Auf der Webseite von SELIM sind Videos zu sehen, die zeigen, wie man einfache mechanische Reparaturen und Einstellungen selbst vornehmen kann, sowie eine Karte mit den Standorten von Fahrradwerkstätten in Lissabon. Außerdem können sich dort potenzielle Fahrradnutzer*innen und -spender*innen registrieren lassen.

Ein allmählicher kultureller und urbaner Wandel 

Die Mitarbeiter*innen von Cicloficina hoffen, dass die Nutzer*innen der Fahrräder das Radfahren als echte Alternative zum Pendlerverkehr entdecken. Für die Gruppe ist es dabei wichtig, die weitverbreitete Ansicht in Frage zu stellen, dass das Auto aufgrund der steilen Hügel Lissabons die einzige praktikable Möglichkeit ist, sich in der Stadt fortzubewegen. Das Fahrrad verlangt jedoch eine andere Form der Mobilität, eine, die nicht den üblichen autogerechten Straßen folgt. „Manchmal, wenn es sehr steil bergauf geht, muss man eine alternative Route finden. Es mag zwar etwas länger dauern, aber schließlich kommt man immer an sein Ziel“, sagt Nuno.

„Für mich ist das Schönste an diesem Projekt der glückliche Ausdruck in den Gesichtern der Menschen, wenn sie ihr Fahrrad bekommen. Das hat wirklich eine enorme Auswirkung auf ihr Leben.“

Nuno Pinhal

Die Nachfrage nach Fahrrädern zeigt, dass ein derartiger Service dringend benötigt wird. Aufgrund des Mangels an Großspenden und der langen Reparaturzeit priorisiert das kleine Team von Cicloficina (bestehend aus vier Vollzeitbeschäftigten und einer Teilzeitkraft) jedoch diejenigen Nutzer*innen, die die Fahrräder wirklich brauchen.
 
„Für uns besteht die Herausforderung darin, wie wir am besten die Anfragen mit der höchsten Priorität identifizieren können“, erklärt Nuno. Für alle, die darüber nachdenken, ein ähnliches Projekt in ihrer Stadt zu starten, ist es deshalb wichtig zu verstehen, über welche Kommunikationskanäle – wie zum Beispiel Social-Media-Seiten, Radioprogramme, Podcasts oder sonstige Medien – man die Bedürftigen tatsächlich erreichen kann. Er hebt hervor, dass die Zielgruppe, zu der zum Beispiel Menschen gehören, die wegen der Pandemie ihre Arbeit verloren haben, wohl eher nicht das Time-Out-Magazin liest oder der Facebook-Seite der Stadtverwaltung von Lissabon folgt. Nichtsdestotrotz hat SELIM bis Februar 2021 bereits 120 Fahrräder ausgeliefert und über 240 gespendete Räder eingesammelt, die nun aufgearbeitet werden. Bisher sind schon mehr als 780 Anfragen eingegangen.

Fahrräder erobern die Städte

 Es gibt bereits weitere „Cicloficinas“ in mehreren Städten, die von lokalen Fahrrad-Communitys ins Leben gerufen wurden. Cicloficina dos Anjos selbst wurde von ähnlichen Projekten auf der ganzen Welt inspiriert. Dazu gehören Mão na Roda in São Paulo, PedalPower in Vancouver und die Bikekitchen in München, wo man lernen kann, wie man sein Fahrrad selbst repariert.
 
SELIM ist Teil einer Reihe von interessanten Projekten, die das Fahrrad als Form der aktiven Stadtmobilität fördern. Dazu gehören das Förderprogramm „Programa de Apoio à Aquisição de Bicicleta do Município de Lisboa“ der Stadtverwaltung von Lissabon, das den Kauf von Fahrrädern subventioniert, und das städtische Fahrradkonvoi-Programm „Programa Municipal de Comboios de Bicicletas de Lisboa“, in dessen Rahmen Kinder von erwachsenen Begleiter*innen mit dem Fahrrad zur Schule gebracht werden.
 
SELIM ist dabei mehr als nur ein Programm zur Reparatur von Fahrrädern, denn es eröffnet eine andere Sichtweise auf die Stadt. Es regt die Stadtbewohner*innen dazu an, ihre unterschiedlichen Ressourcen und Fähigkeiten miteinander zu teilen. Während Sie mit einem gespendeten Fahrrad durch Lissabon fahren, das von anderen repariert und ausgeliehen wurde, werden Sie vielleicht bemerken, dass sich ein Wandel anbahnt.

IN DIESER REIHE GEHT ES UM:

Das Projekt „Inspirador für mögliche Städte“ von Laura Sobral und Jonaya de Castro zielt darauf ab, Erfahrungswerte aus Bürger*inneninitiativen, akademischen Kontexten und politischen Maßnahmen zu identifizieren, die sich an Transformationsprozessen hin zu nachhaltigeren, kooperativeren Städten beteiligen. Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Lebensweise und unsere Konsumgewohnheiten die Auslöser der Klimakrise sind bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Mitverantwortung einzugestehen. Grüne, geplante Städte mit autonomer Nahrungsmittelversorgung und einer Abwasserentsorgung auf Grundlage natürlicher Infrastrukturen können ein Ausgangspunkt für die Entwicklung der neuen Vorstellungswelt sein, die für diesen Wandel notwendig ist. In dem Projekt werden öffentliche Maßnahmen und Gruppeninitiativen aus der ganzen Welt vorgestellt, die auf die Möglichkeit anderer Lebensweisen aufmerksam machen.
 
Das Projekt systematisiert inspirierende Fälle und Ideen in den folgenden Kategorien:  
#entwicklung_neudefinieren, #raum_demokratisieren, 
#ressourcen_(re)generieren, #zusammenarbeit_intensivieren,  
#politische_vorstellungskraft   

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