Ausgesprochen ... integriert
Sind wir nicht alle käuflich?

Eine Hand reicht einen Geldschein durch eine Plexiglasscheibe, die den Fahrstand eines Busses vom Fahrgastraum trennt.
Wo fängt Korruption an? Mit Bargeld im Bus bezahlen in Zeiten von Corona, Aufnahme 25.06.2020 Dormagen, Deutschland | Foto (Detail): Henning Kaiser © picture alliance/dpa

Autor Dominic Otiang’a denkt an seine erste Begegnung mit Korruption in Deutschland zurück und fragt sich, warum Menschen so werden – in Kenia wie in Deutschland. Sind wir alle gleich und es ist einfach eine Frage der Gelegenheit?

Von Dominic Otiang’a

Zu Beginn der Pandemie herrschte der weit verbreitete Eindruck, manche Länder seien besser für den Umgang mit ihr gerüstet als andere. Im Laufe der Zeit wurden sich Länder und ihre Oberhäupter jedoch immer ähnlicher – von Covid‑Leugner*innen bis hin zu Covid‑Korruptionsskandalen.  

Ich war in dem Glauben aufgewachsen, dass Korruptionsdelikte von schlecht bezahlten Einzelpersonen begangen werden, die ihre wertlosen Gehälter aufzubessern suchen. Das beeinflusste meine vorurteilsbehaftete Einschätzung eines reichen Staates wie Deutschland, in dem ich nicht einmal Diebstähle erwartete. Jedenfalls nicht, bis meinem Neffen nahe Hannover das Fahrrad vom Schulgelände geklaut wurde. Zuerst war ich schockiert, weil ich eine solche Tat in einem reichen Land nicht vermutet hatte, dann ärgerte ich mich darüber, dass ich schockiert war. Mir dämmerte, dass ich, um diese „neue“ Gesellschaft zu verstehen, als erstes nicht nur akzeptieren, sondern zutiefst verinnerlichen musste, dass Menschen überall gleich sind. Auf diese Weise fing ich an, nach dem „Warum“ zu fragen, wann immer mir etwas Unerwartetes begegnete, statt dem Mantra „Andere Länder, andere Sitten“ anzuhängen. 

Ein Unterschied von 30 Cent

Vertraute Situationen erscheinen in einer fremden Umgebung gelegentlich anders. Dennoch konstatierte ich in einem meiner Artikel, dass die Dinge meinen früheren Erfahrungen in Kenia umso mehr ähnelten, je länger ich mich in Deutschland aufhielt. Ich erwähnte auch meine erste unerwartete Begegnung mit Korruption in Deutschland: Ich war gerade für eine Kurzstrecke in den Bus eingestiegen, hatte das exakte Entgelt von 1,30 Euro vorgelegt und wartete darauf, dass mir der Fahrer eine Quittung überreichte. Er schob mir die 30 Cent hin, behielt den Euro und schickte sich in aller Ruhe an, weiterzufahren. Dann bat er mich, mich hinzusetzen. Ich erwiderte, dass ich immer noch auf die Quittung wartete. Er drehte sich mit großen Augen zu mir um, forderte die 30 Cent zurück, steckte die Münzen in die Maschine und drückte ein paar Zahlen auf dem Tastenfeld, bevor er die Quittung herauszog und sie mir über die Schulter hinweg hinhielt. Als ich endlich kapierte, dass der Mann versucht hatte, die „öffentliche Beute“ mit mir zu teilen, stand ich bereits wieder draußen vor dem Bus. 

Alltagskorruption 

Später erzählte ich die Geschichte dieser Begegnung einigen Freund*innen, die alle sagten, sie hätten so etwas noch nie erlebt. Es kann sein, dass manche Leute Bestechungsgelder annehmen oder fordern, um ihr Einkommen aufzubessern und ihre Grundbedürfnisse zu decken, aber das kam mir in dieser Situation, in der es nur um einen Betrag von einem Euro ging, nicht so vor. Ich denke, Korruption hat viel mit Habgier zu tun, aber auch danach sah es mir nicht aus. Der Busfahrer, so schien es mir, war einfach anders aufgewachsen, in einem Umfeld, in dem Korruption Alltag war. Aber da ich davon überzeugt bin, dass Menschen überall gleich sind, wollte ich trotzdem verstehen, warum ich diese Art von Korruption um mich herum kaum sehe und warum manche Länder als korrupter gelten als andere.

Mein Wörterbuch beschreibt Korruption als „einen Akt, der in der Absicht ausgeführt wird, einen Vorteil zu erlangen, der mit der Dienstpflicht und den Rechten anderer unvereinbar ist“. Ich habe bereits an anderer Stelle darüber gesprochen, wie Kulturen und Lebensweisen davon geprägt werden, mit welchen Mitteln man seinen Lebensunterhalt verdient. Nun, ich bin in der glücklichen Lage, das Leben in zwei verschiedenen Wirtschaftssystemen erlebt zu haben: Kenia und Deutschland. In Deutschland sind die Bürger*innen hauptsächlich Angestellte.

Dem Institut für Mittelstandsforschung Bonn zufolge sind lediglich 9,3 Prozent selbstständig. In Kenia dagegen ist der Großteil der Leute selbstständig: Nach einem Bericht von Trading Economics rechnete die Weltbank für 2020 mit 51,31 Prozent. Mir fiel auf, dass der Korruption verdächtige Menschen in beiden Ländern sehr wahrscheinlich Leute sind, die die Befugnis haben, Transaktionen durchzuführen oder finanzielle Entscheidungen zu treffen, die ihr eigenes Einkommen oder das einer Gruppe, eines Unternehmens oder eines Landes betreffen. Nur in seltenen Fällen sind einfache Angestellte involviert.

In Kenia ist die Lehrerkommission TSC (Teachers Service Commission) einer der größten Arbeitgeber und Berichten zufolge einer der am wenigsten korrupten. Beide Länder hatten im Kontext der COVID-19-Pandemie Korruptionsskandale um Atemschutzmasken vorzuweisen, bei denen Politiker*innen die Hauptverdächtigen waren.

Aber bedeutet das, dass alle Angestellten rechtschaffen und unbestechlich sind und sich nur Selbstständige korrumpieren lassen? Und kann man wirklich behaupten, unbestechlich zu sein, wenn man keine verantwortliche Stellung innehat und Transaktionen gar nicht beeinflussen kann? Nun, das lässt sich testen: Schauen Sie sich bei sich zu Hause um, und wenn Sie irgendetwas, das für eine Gruppe bestimmt war, zu ihrem persönlichen Vorteil abgezweigt haben, sei es ein Kugelschreiber oder Druckmaterial, von dem Arbeitsplatz, einer Organisation oder einer Firma, dann verfügen auch Sie über ein gewisses Potential für Korruption.  
 

„Ausgesprochen …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im wöchentlichen Wechsel Dominic Otiang’a, Aya Jaff, Maximilian Buddenbohm und Margarita Tsomou. Dominic Otiang’a schreibt über sein Leben in Deutschland: Was fällt ihm auf, was ist fremd, wo ergaben sich interessante Einsichten?

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