Ausgesprochen … gesellig
Die Zeit, die Stadt und die Menschen – zwei Stunden vor der Ausgangssperre

Blick in den Hauptbahnhof Hamburg auf die nahezu leeren Bahnsteige
Der Hauptbahnhof war früher, als noch alles normal war, ein stark überlaufener Ort | Foto (Detail): Georg Wendt; © picture alliance/dpa

Der Hauptbahnhof war immer ein hektischer Ort, an dem viele Menschen zusammenkamen – sehr viele Menschen. Das war vor Corona. Maximilian Buddenbohm hat dort jetzt ganz andere Szenen beobachtet.

Von Maximilian Buddenbohm

Zwei Stunden vor der abendlichen Ausgangssperre fährt ein Kind im Hauptbahnhof auf einem Dreirad im Kreis herum und singt dabei. Die Eltern stehen daneben, sie unterhalten sich und sortieren Gepäck um. Gerade reicht er ihr eine Zeitung, die steckt sie ein. Das ist ein einfaches Bild. Ohne Pandemie wäre es nicht möglich, nicht hier, nicht an einem Werktag, nicht zu dieser Uhrzeit am frühen Abend. Der Hauptbahnhof war früher, als noch alles normal war, ein stark überlaufener Ort. Es war auch der erste Ort in dieser Stadt, an dem man solche Richtungspfeile für Fußgänger auf den Boden gemalt hat, die man heute überall in der Innenstadt sieht. Das war noch weit vor Corona und kam damals allen seltsam vor, darüber hat man gelacht, das weiß ich noch. Solche Pfeile waren doch für Autos. Jetzt sollte man sich auch noch beim Gehen an Spuren halten, das war komisch. Aber es waren einfach zu viele Menschen, alle kamen sich dauernd in die Quere, es war ein fortwährendes Gerempel und Gedrängel. Der Bau war nicht vorgesehen für solche Menschenmassen, die Millionenstadt war längst zu groß geworden für den alten Bahnhof, es war eng dort. Kein Kind hätte da irgendwo auf einem Dreirad im Kreis fahren können. Und kein Kind hätte man singen hören, in der stürmenden Menschenhorde. Damals.

Ein Sonnenstrahl

Nicht weit von dem Kind auf dem Dreirad fällt gerade ein Sonnenstrahl durch die Stahlkonstruktion der Bahnhofsdecke. Er trifft eine schmale Stelle an einer Wand zwischen einem Imbiss und einem Presseshop. Beide sind schon geschlossen, das ist auch seltsam. Früher war in diesem Bahnhof alles auf, fast immer war da alles auf. In dem Sonnenstrahl steht eine Frau. Sie hat sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt und hält ihr Gesicht mit geschlossenen Augen in die Abendsonne. Es steht kein Koffer neben ihr, sie hat keine Einkäufe dabei, man kann nicht erkennen, was sie im Bahnhof wollte. Sie steht da einfach und sonnt sich. Sie sieht nicht so aus, als müsste sie dringend weiter. Sie hat diesen Sonnenstrahl gefunden und genießt den jetzt.

Ich bleibe stehen und sehe mir die Szenen an. Das konnte man früher nur schwer, da einfach stehenbleiben. Die Menge hätte mich zu dieser Stunde einfach weggeschoben. Jetzt gehen ein paar Menschen um mich herum, das macht nichts, ich störe nicht einmal. Ich sehe mir die Passanten um mich herum an, ich sehe genau hin, wie sie gehen. Ich erinnere mich, wie sie früher gegangen sind, und ich bin mir sicher, sie gehen jetzt langsamer. Vielleicht sind sie entspannter, vielleicht sind sie auch nur gelangweilter. Oder sie haben einfach keine Energie mehr übrig, nach vierzehn Monaten mit Corona, vielleicht sind sie erschöpft, das kann ich nicht unterscheiden. Aber es ist ein anderer Rhythmus in diesen Menschen, es ist ein anderes Bewegungsmuster. Die Pandemie hat alles langsamer gemacht, die Zeit, die Stadt und die Menschen.

Menschen, die nichts machen

Wenn man erst einmal darauf achtet, es gibt noch mehr Menschen, die in diesem Bahnhof irgendwo lehnen, sitzen oder auf ein Geländer gestützt stehen und nichts machen. Einer rennt jetzt doch einem Zug hinterher, aber es ist der einzige Mensch hier, der schnell ist. Er fällt auf und einige sehen ihm nach.

An einem Stand, an dem sonst Zeitungswerber standen und Abonnements verkaufen wollten, werden medizinische Artikel angeboten. Masken, Test-Kits. Eine Verkäuferin steht neben der Ware und sieht fortgeschritten gelangweilt aus, niemand will etwas kaufen. Dann bleibt doch einer stehen und fragt nach dem Preis für FFP2-Masken. Sie nennt die Summe, er lacht, winkt ab und geht weiter.

Zwei Männer auf einer Bank

Zwei ältere Männer sitzen auf einer Bank an einem Gleis und unterhalten sich. Sie haben große Kaffeebecher aus Pappe in der Hand. Ab und zu schieben sie die Masken kurz hoch und trinken einen Schluck. Ein Zug aus einem Vorort hält vor ihnen. Menschen steigen aus, Menschen steigen ein, der Zug fährt wieder ab. Die Männer sitzen da immer noch, sie sehen sich das alles an. Einer sieht auch kurz zu den paar Tauben hoch, die über ihnen durch den Bahnhof fliegen. Die Anzeige für den nächsten Zug auf diesem Gleis springt um, die nächste Abfahrtszeit erscheint. Das interessiert sie nicht, da sehen sie nicht hin. Sie reden weiter, man kann das wegen der Masken natürlich nur ahnen. Ab und zu eine gesprächsbegleitende Geste, ein Nicken, ein Kopfschütteln. Sie sitzen da und reden, sie scheinen Zeit zu haben.

Vielleicht macht man das in einer Stadt so, in der alle Attraktionen geschlossen sind und in der fast nichts mehr stattfindet. Vielleicht geht man zum Bahnhof, warum auch nicht, und setzt sich ein wenig dorthin, wo überhaupt noch etwas passiert, wo andere Menschen vorbeikommen. Und guckt und hat ein wenig Leben, Menschen und Bewegung um sich herum.

Ich finde den Gedanken gar nicht abwegig. Ich mache das auch.
 

„Ausgesprochen …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im wöchentlichen Wechsel Maximilian Buddenbohm, Aya Jaff, Dominic Otiang’a und Margarita Tsomou. Maximilian Buddenbohm berichtet in „Ausgesprochen … gesellig“ über das große Ganze, die Gesellschaft, und ihre kleinsten Einheiten: Familie, Freundschaften, Beziehungen. 

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