Ausgesprochen ... Berlin
Nostalgie oder eine glückliche Zukunft? Mehr Berlin geht nicht!
Das Wort klingt nach einer vergangenen Utopie, aber vielleicht ist Enteignung die letzte Zukunft der Stadt. Unsere Berlin-Kolumnistin Margarita Tsomou nimmt Euch diese Woche mit auf eine Demo, die wie ein Reflex der diversen Stadtgesellschaft aufblitzt, als der Mietendeckel kippt.
Von Margarita Tsomou
Meine Cousine, Mitte Zwanzig, schillernde Pop-Musikerin aus Athen, möchte wie jede kosmopolitische Kulturschaffende, die was von sich hält, nach Berlin ziehen. Obwohl sie Deutsch kann und umtriebig genug ist, um im Dschungel der Berliner Kunstszene zu überleben, zögere ich, sie dazu zu ermutigen. Das Problem: eine bezahlbare Wohnung finden.
Die Wohnungsfrage ist historisch immer schon eine soziale Frage. In den vergangenen Jahren hat sie in Berlin aber absurde Ausmaße angenommen. Die Mieten haben sich im Schnitt verdreifacht, die Einkommen nicht. Politische und kulturelle Wohnprojekte, die den Geist der Kollektivität beherbergten, werden systematisch geräumt. Berlin läuft Gefahr, sich in eine sündhaft teure Metropole wie Paris oder New York zu verwandeln – zu einer Art Fassade aus Verwertung, zu einer kulturellen Ödnis, aus der diverse, subkulturelle, queer‑feministische und migrantische Kulturproduktionen verdrängt werden, weil sich die Innenstädte nur noch pseudokreative Werber*innen mit Geld leisten können.
Eine Art Notbremse in diesem Prozess war der Mietendeckel – der Berliner Senat hatte die Mieten für fünf Jahre eingefroren, viele mussten sogar gesenkt werden. Der wahrhafte Avantgarde‑Schritt der Berliner Politik war eine Reaktion auf den Druck der Berliner Stadt- und Mieter*innenbewegungen, die sich seit Jahren formieren. Die Aufregung war groß: Investor*innenlobbys protestierten über finanzielle Verluste, während die Berliner*innen den Verlust ihrer Wohnung nicht mehr befürchten mussten.
Mietenfrage ist Bundessache
Jetzt aber haben CDU und FDP vor dem Verfassungsgericht geklagt und Recht bekommen, dass die Mietenfrage Bundessache ist. Der Berliner Mietendeckel ist gekippt. Das bedeutet, dass viele Mieter*innen in Berlin mitten in Corona‑times Miete schlagartig zurückzahlen müssen – und zwar rückwirkend seit Juni 2019. Und es ist auch ein politisches Signal: Das Recht auf Wohnraum wird delegitimiert. Wohnen wird als Geschäftsmodell der Hedgefonds und Großinvestor*innen behandelt, die den größten Anteil der Berliner Wohnungen besitzen. Die Folge wird sein, dass einkommensschwachen Bewohner*innen noch stärker verdrängt werden, diejenigen also, die Berlin zu der verrückten, diversen und kulturellen Oase machen, die wir lieben.Doch noch ist dieses Berlin nicht geschlagen: Als das Urteil bekannt wurde, fanden sich über 15.000 bunte Spontandemonstrant*innen auf den Straßen in Neukölln und Kreuzberg zusammen. Wie ein natürlicher Reflex der Stadtgesellschaft, eine Reaktion der kritischen sozialen Masse in Berlin, die ihr Recht auf Stadt einfordert, tauchten sie plötzlich auf: die Prekär*innen und Ökofreaks, Migrant*innen, ältere Menschen und junge Familien, Akademiker*innen und Klubszene, Schüler*innen und Arbeiter*innen. Ein Querschnitt der Berliner Zivilgesellschaft unterstrich den Fakt, dass Wohnen ein Menschenrecht ist und nicht von Gewinnorientierung des privaten Marktes abhängen darf. Sie halten Plakate mit dem Motto „Jetzt erst Recht: Enteignen“ in die Höhe. Denn die Konsequenz des gescheiterten Mietendeckels bedeutet für die Mieter*innenbewegung nun, dass die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co Enteignen“ gelingen muss.
Wohnen als Menschenrecht
Enteignen und Vergesellschaften mag sich nach einer nostalgisch‑utopischen Forderung aus einem anderen Jahrhundert anhören, ist aber für Berlin gerade pure Pragmatik. Der jüngste geniale Einfall der Mieter*innenbewegung lautet: Nach Artikel 15 des Grundgesetzes können Grund und Boden zum Zweck der Vergesellschaftung in Gemeineigentum überführt werden. Auf dieser juristischen Basis fordern die Aktivist*innen, dass gut 240.000 Wohnungen, die an private Immobilienkonzerne (wie zum Beispiel die Deutsche Wohnen) für „einen Appel und ein Ei“ verkauft wurden, von der Stadt günstig zurückgekauft werden, um wieder der demokratischen Kontrolle unterstellt zu werden. Tausende Aktivist*innen prägen mit ihren gelb‑lilafarbenen Kampagnenständen derzeit das Berliner Stadtbild. Hier sammeln sie Unterschriften, um per Volksbegehren die Enteignung zu zwingen – das heißt, die Vergesellschaftung von Wohnraum in Berlin könnte Realität werden. Gestützt werden sie mittlerweile von Gewerkschaften, Migrant*innenvereinen, Jugendorganisationen, aber auch von Fridays for Future, die argumentierten: Wenn die Häuser der Gesellschaft gehören, können wir sie leichter energieeffizient gestalten.Diese Diversität der Stadtinitiativen zeigt nicht zuletzt, wie falsch der hierzulande konstruierte Gegensatz zwischen sogenannten identitäts- und klassenpolitischen, also sozialen Fragen ist: In der Wohnungsfrage wird klar, dass die Queer‑Feministin und der Industriearbeiter durchaus am gleichen politischen Strang ziehen können. So wird bei der Demo auf Englisch ein Transparent hochgehalten: „queers und sexworkers against gentrification: sexwork is work, beeing a landlord isn´t.“ Mehr Berlin geht nicht.
„AUSGESPROCHEN …“
In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im wöchentlichen Wechsel Margarita Tsomou, Maximilian Buddenbohm und Dominic Otiang’a. Unsere Berliner Kolumnist*innen werfen sich in „Ausgesprochen … Berlin“ für uns ins Getümmel, berichten über das Leben in der Großstadt und sammeln Alltagsbeobachtungen: in der U-Bahn, im Supermarkt, im Club.