Faszination Wilder Westen
Mit dem Herzen in der Prärie
Auf der anderen Seite des Atlantiks reibt man sich staunend die Augen über die Liebe der Deutschen zu den amerikanischen Cowboys – wahrscheinlich gibt es dort die meisten Hobby-Cowboys außerhalb der USA. Eine kleine Betrachtung des vermutlich ältesten Live-Rollenspiels Deutschlands.
Von Matthias Bischoff
Wer die Hammer-Ranch in Frankfurt-Seckbach betritt, taucht ein in eine fremde, längst vergangene Zeit. Man sieht Männer in blauen Kavallerie-Uniformen, Trapper mit riesigen Pelzkappen, Damen mit bodenlangen Kleidern und kleinen Hütchen, und dann und wann laufen Menschen mit Federschmuck durchs Bild. Auch die Gebäude scheinen aus einer anderen Zeit zu stammen. Überall stehen Blockhäuser, hier mit dem Schild „Schmied“, dort mit „Saloon“. Dazwischen brennen Feuer, brutzeln Steaks groß wie Badvorleger, es fließt reichlich Bier, und die Musiker spielen Banjo, Geige und Piano.
Wilder Westen mit deutscher Gründlichkeit
Einen solchen Zeitsprung kann man an vielen Orten in Deutschland machen, hunderte Gruppen haben sich der Traditionspflege verschrieben. Allerdings nicht der deutschen Bräuche – sondern des Brauchtums des amerikanischen Westens in der Zeit des mittleren und späten 19. Jahrhunderts. Im Falle des Frankfurter Western Clubs war eine nach Arizona ausgewanderte Familie Grund für die Clubgründung 1966. Die Hammer-Ranch der fernen Verwandten im Wilden Westen wurde zum Vorbild für den Nachbau inmitten von Schrebergärten und Gewerbegebieten.
In den Wäldern im Bergischen-Land, nicht weit von Köln, zelten deutsche Nachahmer der Native Americans regelmäßig an einem Flussufer. Um die spitzen Tipis tummeln sich Irokesen und Crow. In den riesigen Weiten Nordamerikas konnten sich die Stämme nie begegnen, hier bei Bergisch-Gladbach leben sie beide zusammen. Initiiert werden die Lager vom Verein „Trappers Kaltenbroich“. Ein Blick auf die Webseite zeigt hier, wie auch bei den anderen Veranstaltern, dass den Vereinsmitgliedern die Kultur der indigenen Völker wichtig ist. Bekleidung, Trommelinstrumente oder Waffen werden möglichst authentisch hergestellt, man kennt sich mit den Traditionen bestens aus. Das Hobby „Wilder Westen“ ist in Deutschland seit vielen Jahrzehnten angesagt und wird natürlich mit deutscher Gründlichkeit gepflegt. Auf der Webseite „Western-Bund“ sind rund hundert Vereine in der ganzen Republik aufgelistet, es gibt aber weit mehr.
Hugh!
Woher aber kommt die deutsche Liebe zum Wilden Westen, zu Cowboys, Trapper*innen, Siedler*innen und Native Americans? Ein Teil der Antwort lautet ganz einfach: Winnetou. Wohl kaum ein Mensch, der in Deutschland zwischen 1880 und 1980 geboren wurde, hat diesen Namen nicht irgendwann gehört. Der ungeheuer edle Apachen-Häuptling, vom genialen Flunkerer Karl May erfunden, war in Deutschland ein Jahrhundert lang eine ikonografische Figur vom Rang eines Harry Potter oder Darth Vader. Die frei erfundenen, in Ich-Form geschriebenen Romane Karl Mays, die er anfangs noch frech als authentische Reiseberichte verkaufte, machten ihn bereits vor seinem Tod 1912 zu einem reichen Mann und verkauften sich im Lauf des 20. Jahrhunderts weltweit mehr als 200 Millionen Mal (bis 2015). Als dann in den 1960er Jahren die drei Winnetou-Bücher, aber auch Der Ölprinz, Der Schatz im Silbersee und viele andere mit für damalige Zeiten großem Aufwand verfilmt wurden, sorgten Leinwand und später Fernsehen dafür, dass man den Abenteuern des deutschen Landvermessers „Charly“ nicht mehr entgehen konnte, der als nahezu unbesiegbarer „Old Shatterhand“ zum Freund der Apachen wurde und nebenbei noch deutschen Edelmut und das Christentum im Gepäck hatte. Redewendungen aus den Büchern sind sprichwörtlich geworden, so etwa, wenn man jemanden „in die Ewigen Jagdgründe“ schickt, also tötet. Oder das „Hugh! Ich habe gesprochen“, mit dem Karl May jeden Monolog eines Häuptlings beendet. Die der englischen Aussprache unkundigen Deutschen haben das natürlich „Huck!“ ausgesprochen, ab und zu hört man das noch heute.
Aber nicht genug mit Karl May. Auch die Romane von J.F. Cooper, Lederstrumpf und Der letzte Mohikaner waren schon im 19. Jahrhundert ungeheuer populär. Um 1800 schwärmte Goethe „Amerika, du hast es gut!“ und spielte damit auf die im engen, von fürstlichen Kleinstaaten geprägten Deutschland vorherrschende Sehnsucht nach einem freien, unbelasteten Leben. Bis zum ersten Weltkrieg kam es immer wieder zu Auswanderungswellen, mit Ir*innen und Italiener*innen waren die Deutschen eine der großen Einwandergruppen, und so gab es in zahllosen deutschen Familien irgendeine verwandtschaftliche Verbindung in die USA. Die Liebe zu den „Cowboys und Native Americans“ ist in Deutschland zur Tradition geworden, Kinder und auch Erwachsene verkleiden sich entsprechend zum Karneval, und kaum jemand hat das Gefühl, dass es sich um die Aneignung einer fremden Kultur handeln könnte.
Der Mythos lebt
Darüber hinaus strömen jährlich tausende Besucher zu den Karl-May Festspielen im westfälischen Sauerland oder in Sachsen. Die berühmtesten Freilichtfestspiele finden seit Anfang der 1950er Jahre in Bad Segeberg bei Lübeck statt. Unter dem Motto „Eine Stadt spielt Karl May“ machten viele Bad Segeberger als Komparsen mit, die erste Inszenierung musste mit 25.000 DM auskommen, heute stehen viele Millionen Euro zur Verfügung. Und obwohl Pierre Brice, der beliebteste Film- und Bühnen-Winnetou aller Zeiten, nun schon seit einigen Jahren in den ewigen Jagdgründen ist, kommen alljährlich knapp 400.000 Besucher*innen nach Bad Segeberg: Der Mythos lebt.
Das zeigt auch der Blick auf die Kinoleinwand: Unter den 20 erfolgreichsten deutschen Filmen seit 1945 finden sich nahezu alle Karl-May-Verfilmungen der 1960er Jahre. Aber mit 11 Millionen Zuschauer*innen allein im Kino steht unangefochten seit 2001 die Karl-May-Parodie Der Schuh des Manitu von Bully Herbig auf Platz eins. Parodien können nur funktionieren, wenn viele Leute, idealerweise eine ganze Gesellschaft, die ernstgemeinte Vorlage kennen. Alle Klischees des Wilden Westens à la Karl May werden verspottet. Der phänomenale Erfolg des Films hat ein weiteres Mal bewiesen, dass man in Deutschland mit der Kombination Karl May plus Comedy nichts falsch machen kann. Ganz einfach womöglich, weil nicht wenige Deutsche mit dem Herzen in der Prärie leben.