Jogging
Schuhe, Sex und die Emanzipation des Drauf-los-Trabens
![Das Jogging gab es schon immer irgendwie. Kaum eine Sportart ist älter, kaum eine egalitärer, kaum eine so sehr Breitensport: das Jogging gab es schon immer irgendwie.](/resources/files/jpg1198/jogging-formatkey-jpg-w320m.jpg)
Kaum eine Sportart ist älter, kaum eine egalitärer, kaum eine so sehr Breitensport: eine Hommage an den Ausdauerlauf.
Von Alina Schwermer
Was ist das doch für eine unterschätzte Sportbewegung, dieses Joggen. 6,3 Millionen Deutsche gehen häufig joggen, noch einmal 17 Millionen joggen zumindest gelegentlich. Wie war das nochmal mit der Deutschen liebstem Sport? Ach ja, angeblich der Fußball. Es sind allerdings nur rund 3,5 Millionen Deutsche über 14 Jahren, die nach eigenen Angaben häufig gegen den Ball kicken. Nur gucken zählt hier nicht.
Sensationell erfolgreich also, dieses Joggen – und dramatisch untererzählt. Nur dann in Deutschland vielleicht mal Thema, wenn der Berlin-Marathon stattfindet. Denn das Jogging hat es schwer in der Medienindustrie: Es geht kaum um Siege und Niederlagen – die Freizeitjoggerin gewinnt ja höchstens gegen sich selbst –, es kommt ohne mächtige Verbände aus, ohne Sportanlagen. Eine der größten Massensportbewegungen der Nachkriegsgeschichte. Und nebenbei auch ein ziemlich gutes Geschäft.
Jogging gab es irgendwie schon immer
Sarkastisch gesagt: Als er begann, es Jogging zu nennen. Und tatsächlich änderte sich damit einiges.
Lange Zeit nämlich war Sport eine Beschäftigung weniger, oft ambitionierter Männer – Breitensport, wie wir ihn heute kennen, gab es nicht. Mit dem Siegeszug des Joggings begannen ganz normale Menschen, massenhaft und selbstorganisiert Freizeitsport zu treiben. Und sie taten das nicht auf Sportanlagen, sondern vor aller Augen auf den Straßen und in den Parks der Stadt. Beides war Ende der 1960er-Jahre eine Revolution.
Der Prophet des Joggings, so wollen es die Überlieferungen, heißt Arthur Lydiard. Ein neuseeländischer Leichtathletiktrainer, der 1960 schlagartig berühmt wurde, als seine Läufer Peter Snell und Murray Halberg innerhalb von einer halben Stunde zweimal Olympisches Gold für Neuseeland holten. Sein Erfolgsgeheimnis: Lydiard ließ sie joggen. 1961 gründete der auch später höchst erfolgreiche Trainer Neuseelands ersten Jogging-Klub.
„Das neue Laufen ohne zu Schnaufen“
Der Apostel, der das Joggen zu einem großen Geschäft machte, war allerdings ein anderer. Nämlich der US-Amerikaner Bill Bowerman, der bei Lydiard lernte – und in den USA 1967 einen eigenen Jogging-Ratgeber veröffentlichte. Einfach geschrieben, verkaufte er das Jogging als Gesundheitssport für jedermann und landete einen Bestseller. Und praktischerweise war Bowerman als Mitgründer des noch jungen Sportartikelherstellers Nike nicht ohne Eigeninteresse: Ein Jahr später brachte Nike den ersten Joggingschuh heraus.
Und was ohne die Wünsche der Industrie? Laufschuhe für jedermann entwickelten sich zu einer Goldgrube. Nike und Adidas entdeckten eine Branche, die im 21. Jahrhundert dann 20 Milliarden Dollar jährlich umsetzen sollte. Joggen blieb auch deshalb mehr als ein kurzer Hype, weil die Profitspanne schlicht größer ist als, sagen wir, beim Kegeln. Die Unternehmen schufen eine ganze Industrie darum herum. Der Marathon wurde vom Spleen einiger Verrückter zum „Mount Everest für Jedermann“.
Der Boom der Fitnessstudios
Und dennoch ist das Jogging auch eine Bewegung von unten: Weil Joggen immer wieder so hervorragend zum Zeitgeist passte. Denn es verspricht mehr als nur Sport. Von Beginn an gilt es als Möglichkeit, abzuschalten, zu entspannen, den Kopf zu beruhigen. Etwas, das übrigens erst jüngst von der Sporthochschule Köln wieder wissenschaftlich belegt wurde: Das Gehirn blendet beim Joggen überflüssige Reize aus, eine meditative Wirkung setzt ein. In einer Gesellschaft, die unter immer höheren Ansprüchen der Lohnarbeit ächzt, bleibt das gefragt.
Zudem bot das Jogging, diese selbstorganisierte, freie Tätigkeit, stets flexible Erzählungen. In den späten Sechzigern, während der sexuellen Revolution, predigten Magazine es als probate Möglichkeit, das eigene Sexleben zu verbessern. Ja, wirklich. In den Siebzigern galt Jogging auch als spirituelle Selbsterfahrung. Und den Aufstieg des Fitness-Ideals in den Achtzigerjahren beschreibt Medizin-Ethikerin Isabella Marcinski auch als neoliberales Symptom: Ein gesunder Körper wurde in Verbindung gebracht mit Leistungsfähigkeit, Disziplin, Jugendlichkeit, Erfolg. Die Mittelschicht grenzt sich körperlich von den „faulen“ Armen ab. „Stillstand, mangelnde Beweglichkeit, gar Faulheit sind sozial verpönt.“ Am Ende dieser Entwicklung steht der Boom der Fitnessstudios – gejoggt wird jetzt auf dem Laufband. Und mit morgendlicher Laufroutine rühmen sich die CEOs im Silicon Valley.
Trotzdem bleiben aber auch die Potenziale von unten bestehen. Das International Institute for Race Medicine stellte 2019 fest, dass erstmals weltweit mehr Frauen als Männer an Läufen teilnahmen. Kaum eine Sportart ist so egalitär. Das Institut stellt auch einen globalen Wandel fest: Beim Marathon etwa werden die Schlusszeiten stetig langsamer. Den Teilnehmer*innen geht es vor allem um das Erlebnis, viele weniger sportliche Menschen machen mit. Die Cracks steigen indessen auf extremere Herausforderungen um: Es boomen Ultraläufe und Ironman-Rennen. Der gesellschaftliche Glaube an Leistungssteigerung und fitte Körper ist ungebrochen.
Wem das zu irre ist, der kann aber auch ganz einfach tun, was Menschen seit einem halben Jahrhundert tun: Aus der Wohnungstür treten und lostraben. Ohne Anmeldung, ohne Mitgliedsbeitrag, ohne Stress im Kopf und ohne Vorgabe, wie weit die Füße tragen sollen.