Ausgesprochen … gesellig
Drei Ratten mit etwas Kontext

Porträt einer Ratte, nach links oben blickend
Die Ratte arbeitet ohne jede Hektik | Foto (Detail): R. Richter; © mauritius images / Tierfotoagentur

Was bleibt von Kaufhäusern und Imbissen? Maximilian Buddenbohm hat beobachtet, wie sich Touristen und Ratten in einer verändernden Stadtlandschaft zurechtfinden.

Von Maximilian Buddenbohm

Ich gehe zwanzig Minuten von meiner Wohnung in mein Büro. Es ist ein Weg durch zwei Stadtteile, der eine davon besteht fast nur aus Büros. In den letzten zwei Jahren sind auf diesem Weg mehrere Imbisse geschlossen worden und haben nicht wieder aufgemacht. Vielleicht haben sie die pandemiebedingten Schließzeiten nicht überlebt, vielleicht sind die Kunden ausgeblieben, weil sie durch die Inflation sparen mussten und sich daher morgens Brote geschmiert haben, statt weiter den Mittagstisch zu bestellen. Vielleicht kommen nach den Coronajahren weniger Kunden vorbei, weil sie mehrheitlich einige Tage pro Woche oder auch durchgehend im Home-Office bleiben. Ich halte die Home-Office-Erklärung für die wahrscheinlichste, aber man erfährt es natürlich nicht genau. In ihrer Gesamtheit stehen diese Imbisse auf meinem Weg sicher für städtischen Wandel. Es bricht etwas weg, was lange Zeit normal war.

Apokalyptische Szene beim Imbiss

Der eine der drei geschlossenen Imbisse wirkt in diesen Wochen etwas verfallen, man hat alles weggerissen, was an der Front einmal angebaut worden ist, die Werbung, die Markise, die Außenbeleuchtung, auch die Pavillonzelte über den Plastikstühlen. Kisten und Kartons stehen unordentlich vor dem Imbiss, teils aufgerissen und aufgeweicht im Nieselregen, alles wirkt wie eine Ruine. Und in der Ruine verräumt, als ich dort vorbei gehe, eine Ratte gerade letzte Speisereste. Es sieht ein wenig nach apokalyptischem Film aus. Das Tier holt sich etwas aus einem kaputten Eimer, trägt es ein Stück weiter, kommt zurück und holt sich mehr. Die Ratte arbeitet da ohne jede Hektik ab, was die Menschen ihr als Aufgabe dagelassen haben und in ein paar Wochen, nehme ich an, ist von diesem ehemaligen Imbiss im Stadtbild nichts mehr zu sehen. Wir demontieren, das Tier macht mit und nimmt sich seinen Anteil.

Vielleicht macht aber auch, das kann selbstverständlich sein, ein neuer Imbiss dort auf, und die Ratte wird sehen, wie sie sich mit den neuen Betreibern arrangieren kann. Man wird sich dann sicher auf verschiedene Arbeitszeiten einigen, wovon der Mensch womöglich nichts mitbekommen wird.

Ein Stück Stadtgeschichte verschwindet

Szenenwechsel. In der Innenstadt wird am hinteren Gebäudeteil eines großen Kaufhauses etwas abgerissen, da wird Verkaufsfläche aufgegeben. Dieses Kaufhaus gehört zu einer Kette, die gerade viele Filialen in etlichen Städten schließt und zahlreiche Angestellte entlässt, es war in allen Medien. Es ist ein Thema, über das viel gesprochen wird, man hat Meinungen dazu. Aber nur wenige meinen, Lösungen für die Krise der Geschäfte und der Innenstädte zu wissen, nicht einmal als smalltalktaugliches Halbwissen. Das unterscheidet dieses Thema grundsätzlich von vielen anderen.

Es geht jedenfalls um bedeutende Kaufhäuser, um teils gewaltige Klötze, die der Mittelpunkt mancher Innenstadt waren. Sie waren nicht unbedingt schön, sie waren vielleicht sogar der Inbegriff architektonischer Hässlichkeit, schwere Sünden aus den Siebzigern, aber sie waren doch wichtig. Das ist nun vorbei, eine Ära endet. Eine Baumaschine greift weit oben nach dem Stahlträger einer Brücke, die zwei Gebäudeteile verbunden hat, und zieht gewaltig rüttelnd daran. Die Brücke wird nicht mehr gebraucht. Es staubt, es lärmt, es beben die Mauern. Unten steht eine Menschentraube, die Köpfe nach oben gerichtet, viele sehen betroffen aus. Sicher stehen da auch die Leute, die in diesem Haus arbeiten oder gearbeitet haben. Einige haben gerade heute von weiteren Entlassungen erfahren, ich lese es später in den lokalen Medien. Es verschwindet wieder ein Stück Stadt, ein Stück Geschichte und auch Einkaufskultur und Arbeitsleben, es verschwinden Erfahrungen und Erinnerungen. Die Menschen stehen davor und schütteln den Kopf. Wir sehen hier zu, wie sich etwas ändert, wir wissen nicht, was kommt, und hoffnungsvoll sehen die Gesichter in der Gruppe am Straßenrand definitiv nicht aus. Ganz unten, wo vermutlich kaum jemand hinsieht und ich auch nur zufällig, weil ich gerade etwas notiere, quert eine Ratte den bröckelnden Bauschutt. Sie rennt hastig über die Straße und verschwindet um die Ecke, man sieht sie nur eine Sekunde lang. Ich denke, die verliert vielleicht auch gerade ihre Heimat, oder zumindest ein Stück davon. Wäre ich Pressefotograf und schnell genug, ich hätte das Foto der Ratte, die aus der Kaufhausbaustelle an den ehemaligen Angestellten vorbeiläuft, sicher gut verkauft. Aber ich kann nur etwas über das Gesehene schreiben, Wochen später, und Tage danach erscheint das dann erst. Im Textbetrieb dauert alles etwas länger.

Touristen erobern den Alltag

Noch ein Szenenwechsel. Mein Stadtteil kommt oft in Reiseführern vor. Wenn man nach Hamburg reist, dann sieht man sich das hier an. Man geht hier aus, man kauft hier etwas, man bummelt hier durch. Man macht vielleicht auch eine Führung mit und lässt sich alles genau erklären. Diese immer beliebter werdenden Führungen sind ein weiteres Zeichen des Wandels, früher gab es kaum welche bei uns. Das war ein eher heruntergekommener, eher billiger Stadtteil, vor etwa zwanzig Jahren, als ich hier eingezogen bin, noch mit günstiger Miete, man kann es sich kaum noch vorstellen. Heute werden es immer mehr Führungen und wo ich auch entlanggehe, irgendwo steht mit Sicherheit eine Touristentraube, und eine fachkundige Person erklärt neugierigen Menschen, wo sie gerade sind und was sie sehen.  Ich weiß, wo sie sind und was sie sehen, denke ich dann, sie stehen mir im Weg herum und sie sehen mich auf dem Weg zum Discounter. Die normalsten Wege werden auf diese Art zur Kulisse und zum Event für andere, die damit besondere Ferienerlebnisse verbinden. Es fühlt sich merkwürdig an und ich möchte mir nicht vorstellen, wie es erst den Einheimischen in Venedig oder Amsterdam gehen muss, zu denen noch mehr Menschen reisen, dort programmgemäß alles bestaunen und beim Anblick der Einheimischen zuverlässig denken: So also geht es hier zu.

Da vorne stehen zehn, zwanzig Menschen vor einer Kirche. Es ist die Kirche vor meiner Haustür. Jemand mit einem Klemmbrett unter dem Arm hält einen Vortrag über die Kirche und hält ein Bild hoch. Wann wurde die Kirche gebaut, wann wurde sie im letzten Krieg teilweise zerstört, wie und wann wurde sie wieder aufgebaut. Einige Touristen fotografieren den schönen Turm, einige fotografieren die großen, blaugelben Holzbuchstaben vor dem Portal, die das Wort LIEBE bilden.

Ein tierischer Star am Kirchentor

Und dann kommt eine Ratte des Wegs. Sie humpelt, sie geht langsam, sie sieht struppig oder räudig aus. Sie ignoriert die Menschen und sie ist mitten am Tag unterwegs, es ist nicht schwer zu erkennen, dass diese Ratte krank ist. Vielleicht ist das einer ihrer letzten Wege. Sie hinkt an den Touristen vorbei. Von denen wird sie jetzt entdeckt und gleich darauf von nahezu allen fotografiert, guck mal, guck mal, eine Ratte! Es sind keine Rufe des Entsetzens, eher des Entzückens. Wie toll, eine Ratte vor der Kirche, und so zutraulich, das also ist Hamburg, was ein Motiv, jetzt aber schnell. Die Menschen machen Erinnerungsbilder und Filmchen und hören dem Menschen mit dem Klemmbrett nicht mehr zu, der stoisch weiter seinen Vortrag über die Kirche hält. Die Ratte ist besser und interessanter. Sie macht eine kleine Pause hinter einem herumliegenden Karton, da kann man sie nicht mehr so gut fotografieren, das ist schade. „Komm da raus!“, ruft einer der Touristen scherzhaft, als sei die Ratte hier im Auftrag einer städtischen Inszenierung unterwegs und müsste vertragsgemäß noch mehr vorführen.

Ich nehme an, das Entsetzen und der Ekel der Menschen vor der Ratte in dieser Gruppe blieben aus, weil diese Menschen im Touristenmodus waren und daher alles interessant fanden, es war eine Frage der Grundeinstellung. In diesem Reisemodus sind wir alle gelegentlich, es ist sicher nichts falsch daran, aber er biegt doch unsere Wirklichkeit deutlich um, man merkt es in solchen Momenten. Eine Ratte vor ihrer eigenen Haustür wäre diesen Leuten falsch und unangenehm vorgekommen – diese Ratte vor der Kirche im Urlaub aber, die wird eine urbane Urlaubserinnerung, die war gut. Weißt du noch, die Ratte vor der Kirche.

Ich habe später nachgesehen, ob die Ratte hinter dem Karton dort gestorben ist, aber sie hat es wohl noch weiter geschafft. Und die Touristen werden mittlerweile die Rattenbilder längst an ihre Angehörigen und Freunde verschickt haben: Guck mal, das war in Hamburg. So war das da.
 

„Ausgesprochen …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im Wechsel Maximilian Buddenbohm, Susi Bumms und Sineb El Masrar. Maximilian Buddenbohm berichtet in „Ausgesprochen … gesellig“ über das große Ganze, die Gesellschaft, und ihre kleinsten Einheiten: Familie, Freundschaften, Beziehungen. 

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