Popstreit
Was ist gute Popmusik?
Über Geschmack lässt sich streiten. Derzeit passiert das wieder ausführlich anhand der Frage, worin gute Popmusik besteht. Kunst für die Kunst oder Pop für die Massen?
Die Debatte ist älter als die Beatles, auch Elvis Presley hatte mit ihr zu kämpfen: Wie klingt gute Popmusik? Was macht sie aus, was sind die Kriterien der Bewertung? Ging es in den 1950er- und 1960er-Jahren noch darum, Pop grundsätzlich als „Hottentotten-Musik“ (Erich Honecker) zu verdammen oder diese als jugendlich-moderne Kunstform zu verteidigen, wurde in späteren Jahrzehnten differenzierter über Qualitätsmaßstäbe gestritten.
Diskutiert hat man etwa, inwieweit elektronische Sounds virtuos wären und/oder ob sie den Kriterien des Rock’n’Roll entsprechen könnten. Schließlich sorgen hier Maschinen für die „künstlichen“ Töne. Dürfen also echte Musiker nur noch auf Knöpfe drücken oder vor dem Laptop wackeln wie der Spielzeughund auf der Auto-Hutablage? Oder die DJ-Frage der späten Achtziger: Sind sie Zeremonienmeister endloser Clubnächte, neuzeitliche Schamanen oder lediglich schnöde Abspieler von Konserven-Sounds? Mittlerweile senden ältere, so etwa vierzigjährige DJs, die dem Vinyl die Treue halten, Giftpfeile gegen die meisten Jung-Kollegen, die per USB-Stick oder Wechselfestplatte vorgemixte Standard-Sets abnudeln und stets Jesus-gleich die Arme in die Luft stemmen, wie der Mega-Arena-bewährte David Guetta aus Frankreich.
Die Echo-Debatte
Vor diesem Hintergrund ist der gegenwärtige Dauerstreit über den Zustand der (kommerziell) erfolgreichen Popmusik in Deutschland ein Wiederaufleben alter Kulturfehden. Zum Hintergrund: Im Frühjahr 2017 hatte der TV-Satiriker Jan Böhmermann gegen den „Echo“, die Leistungsschau der heimischen Musikindustrie, polemisiert. Dort wird seiner Meinung nach nur seichte Konsensmusik präsentiert, die man dann noch im Rahmen einer halbseidenen Gala mit zweifelhaften Preisen ausstattet. Von „seelenloser Kommerzkacke“ war die Rede im Zusammenhang mit dem Musikpreis Echo, seinen künstlerischen Kriterien und seinen Ausrichtern – nicht zum ersten Mal in dessen Geschichte, aber jetzt vehement auf TV- und YouTube-Kanälen vorgetragen.„Mit Max Giesinger und Co. sucht die deutsche Popmusik seit Jahren ein ganz großes Revival des Schlagers unter falscher Flagge heim“, hatte Böhmermann in seiner Show im ZDF-Spartenkanal neo doziert. Zu Demonstrationszwecken ließ er gar einen Giesinger-Song von Schimpansen nach-„komponieren“. Nach diesem plakativen Gag wurde er noch einmal analytisch: „Gefühle abklappern, Trost spenden, Tiefe vorgaukeln, Millionen erreichen und verdienen und dabei immer schön unpolitisch und abwaschbar bleiben. Das ist die Art der Musik, die wir bisher nur aus der Nachkriegszeit kannten.“
Einige Wochen später hatte Hartwig Masuch, Geschäftsführer der Musikverlagssparte des Bertelsmann-Konzern BMG Rights, in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt konstatiert, dass deutsche Castingshow-Karrieren in den meisten Fällen in bierseeligen Großraumkneipen in der Schinkenstraße in Mallorca enden würden. „Es sind ja die großen Stars, die eine Zeit und ein Genre geprägt haben, die bleiben“, so der 62-jährige Boss der BMG-Musikrechtehändler. „Das gilt für die Neue Deutsche Welle wie für Grönemeyer und Westernhagen. Sie funktionieren heute noch. Über die vielen Nachahmer spricht keiner mehr!“ Demnach hätten wir es eher mit einer Krise in den heutigen Vermarktungsstrukturen zu tun. Diese sind vor allem im Mainstream-Segment von den Gesetzen der Fernsehanstalten bestimmt, die über Nachwuchsshows wie Deutschland sucht den Superstar (DSDS) mit einem nachhaltigen Aufbau von Musikqualität nur am Rande zu tun haben.
Markt und Wirklichkeit
Ansonsten und oftmals in prekären, selbstausbeuterischen Verhältnissen existiert eine schillernde Independent-Szenerie, die von Avantgarde-Experimenten bis hin zu Retropop alles präsentieren kann, was ein differenziertes Musiksegment heute ausmacht: bunte Vielfalt von Schlager bis Black Metal. Wer will da bestimmen, was „gut“ und was „seicht“ oder gar vernachlässigbar ist? Zuweilen rutschen auch bei den Kritikern die Kriterien zwischen dem wirtschaftlich messbaren Erfolg und der kreativen Leistung durcheinander. So hat es in der Popgeschichte immer wieder schnelle Hits gegeben, die stimmig und „gut“ für ihre Zeit gewesen sind, etwa das nihilistische Da Da Da von Trio, dahingepiept auf einem Casio-Taschencomputer. Oder diverse Schlager der Siebziger wie Marleen von Marianne Rosenberg, die einst als „Hitparaden-Käse“ abgetan worden sind und deren Qualitäten sich erst im Nachhinein erschlossen.Der Hamburger Elektro-Liedermacher Andreas Dorau, dem bereits 1981 als Teenager mit Fred vom Jupiter ein naiv-verschmitzter Neue-Deutsche-Welle-Hit gelang, erläutert gegenüber dem Szenenorgan musikblog.de: „Ich glaube nicht, dass man Bedürfnisse berechnen kann. Es sei denn, man heißt eben Scooter; der macht wirklich Lego-Musik und das sehr gut, wie ich finde. Aber wenn ich das täte, käme ich mir blöd vor und würde mich umso mehr ärgern, wenn nicht mal das funktioniert. Musik mache ich zunächst mal für mich!“
Nach fast vier Jahrzehnten in der Independent-Szenerie schreibt er selbstironische Zeilen wie: „Ich habe ein Radio-Gesicht, meine Stimme ist aber nicht so gut“, und stellt gleichzeitig sein Verhältnis zum kalkulierten Mainstream klar. „In diesem Fall hatte ich einfach seit fünf Jahren das Wort Radiogesicht auf dem Zettel stehen, wusste aber nicht, ob das vielleicht zu klamaukig ist und Applaus aus der falschen Ecke kriegt, so malle-mäßig. Ich versuche generell, eher genrefreie Musik zu machen.“ Und der selten mit Bonmots zum Zustand der Popmusik geizende Sven Regener, Schriftsteller, Drehbuchautor und Sänger der Berliner Deutsch-Blues-Band Element of Crime, meint nur lakonisch zum literarischen Stellenwert von Liedtexten in der Neuen Zürcher Zeitung: „Sie sind nicht zum Lesen da, sie müssen gehört werden!“
Gut braucht schlecht
Eine Debatte um gute Popmusik wird daher unentschieden ausgehen. Das Schöne an der heutigen globalisierten Popmusik ist ja, dass auf jedes Kommerzprodukt gefühlt zehn andere kommen, die sich den Regeln entziehen. Alles eine Frage der Wahrnehmung und des Interesses an noch unbekanntem Material. Offen bleibt, ob es ein halbes Jahrhunderte nach Sgt. Pepper oder auch 40 Jahre nach dem Tod von Elvis noch ausreichend musikalische Kombinationsmöglichkeiten im Pop gibt, um als Nachwuchstalent wirklich eigenständig zu sein.Alles schon mal da gewesen? Halb so wild, andere Sparten wie die Modeindustrie machen vor, dass man damit (und davon) gut leben kann. Außerdem kommen mit Sicherheit stetig neue Technologien, die neue Töne, Styles und Haltungen generieren. Schließlich wurde in den Siebzigern der legendäre Technics-Plattenspieler MK 1200 ja auch nicht erfunden, um ihn rückwärts abzuspielen oder zu scratchen. Guter Pop lebt von Können, aber auch vom Widerstand, der Überraschung und von Größenwahn. Wahrscheinlich braucht es erst das Banale, um darüber hinauswachsen zu können – und Satire zu machen, die damit effektvoll spielt.