Activismus
March For Our Lives, Berlin

March for our lives Berlin
Nuria Ruiz

Hunderttausende von Menschen sind vergangenen Samstag zusammengekommen, um gemeinsam beim March For Our Lives in Washington, DC und in vielen anderen Städten in den USA und Europa endlich schärfere Waffengesetze zu fordern, nachdem bei einem weiteren Amoklauf, diesmal an der Marjory Douglas Stoneman High School in Parkland, Florida, 17 Schülerinnen und Schüler sowie Lehrpersonen ums Leben gekommen waren.

Die Menge, die sich aus diesem Anlass vor der Botschaft der Vereinigten Staaten in Berlin versammelt hatte, war deutlich kleiner, aber nicht weniger engagiert bei der Sache, wenn es darum ging, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Einige hundert Menschen, darunter viele Kinder und Teenager, hatten sich am Pariser Platz versammelt, um sich mit der US-Bewegung solidarisch zu zeigen. Organisiert wurde die Kundgebung von der politischen Organisation American Voices Abroad, die zukunftsorientiert eingestellten in Berlin lebenden US-Bürgerinnen und Bürgern eine Stimme verleihen will, sowie die Berliner Zweigstelle von Democrats Abroad, die ausgewanderte Mitglieder der Demokratischen Partei vertritt.

Viele der Anwesenden und Rednerinnen und Redner waren Studierende, Eltern oder Pädagoginnen und Pädagogen. Adri Oldham, Freiwillige und Mitgliedsbeauftragte bei Democrats Abroad in Berlin, die in Detroit und Chicago als Lehrerin tätig gewesen war, bevor sie nach Berlin gezogen ist, hatte für die Anwesenden ein paar „Hausaufgaben“ mitgebracht: Sie forderte dazu auf, sich unbedingt im Ausland als wahlberechtigt registrieren zu lassen und eine Wahlberechtigung für im Ausland lebende US-Bürger anzufordern. Sie richtete sich dabei vor allem an Studierende der High School, die noch vor dem 6. November 2018 das 18. Lebensjahr vollenden. Am Ende ihrer Rede ließ die Menge einen Sprechgesang ertönen: „Heute demonstriere ich, morgen wähle ich!“

Chris Sauca vom Democrats Abroad Jugendgremium bat zu Beginn seiner Rede um 17 Schweigesekunden; eine Sekunde für jedes Oper des Massakers an der Stoneman Douglas High School. Zunächst brachte er seine Solidarität und Bewunderung für die Schülerinnen und Schüler von Parkland zum Ausdruck, die diese Bewegung ins Leben gerufen hatten. Im Anschluss machte er seinem Unmut darüber Luft, dass diese schockierenden Gewalttaten folgenlos bleiben, und fragte: „Wenn kümmert es, dass es für einen 18-jährigen leichter ist, sich ein Sturmgewehr zu besorgen als wählen zu gehen? Warum sollte man schärfere Waffengesetze einführen, wenn alle doch aus tiefstem Herzen den Opfern gedenken und für sie beten? Was zählt schon das Leben eines Kindes, wenn Retweets und Kampagnenspenden für die NRA offenbar viel wichtiger sind?“. Wie viele der lauten Stimmen der Bewegung führte er auch das vielleicht bedeutendste Argument an, nämlich dass viele Studierende, die mit der Angst vor einer Schießerei an ihrer Schule aufgewachsen sind, bei der nächsten Halbzeitwahl oder spätestens bei den Präsidentschaftswahlen 2020 stimmberechtigt sind. Eine solche Massenmobilisierung von Jungwählern könnte womöglich jenen politischen Druck ausüben, der nötig ist, um die Vorherrschaft der Republikaner zu bekämpfen und damit auch den Einfluss der Waffenlobby der NRA zu mindern, die die Debatte um Waffengesetze immer noch stark dominiert.

Wie erwartet waren vor allem in Berlin lebende und arbeitende Amerikanerinnen und Amerikaner zu dieser Demonstration gekommen, allerdings mischten sich auch ein paar Deutsche und Angehörige anderer Nationen unter die Protestler, um sich mit der Bewegung solidarisch zu zeigen. So auch Korbinian Hamberger, ein deutscher Drehbuchautor, und der amerikanische Musiker Norman Vladimir, die gemeinsam zum Protestmarsch gekommen waren. Er wolle die Demonstrierenden aktiv unterstützen und sich für die Bewegung stark machen, obwohl es ihn nicht unmittelbar beträfe, so Hamberger, der die amerikanische Politik genau verfolgt und viele Freunde in den USA hat. Obwohl er um die kulturellen Hintergründe weiß, die das Thema Waffenbesitz in den USA umgeben, erklärt er, dass er die Heftigkeit, mit der die Debatte dort geführt wird, nicht nachvollziehen kann. Aus deutscher Sicht sei es doch nur logisch, dass nach so vielen Gewaltexzessen der private Waffenbesitz komplett verboten werden müsse. „Niemand braucht eine Waffe“, betont er, räumt jedoch gleichzeitig ein, dass das Thema in den USA einfach zu komplex ist, um auf eine solche einfache Formel reduziert werden zu können. Sein Freund, der in Tennessee aufgewachsene Norman Vladimir, hat vor über zwanzig Jahren eine Schulschießerei an seiner High School überlebt; eine Erfahrung, die ihn nach eigener Aussage bis heute nicht loslässt. Er zeigte sich frustriert darüber, dass sich seither nicht viel in Sachen Waffenrecht getan hat. Er teilt die Meinung seines Freundes, der ein komplettes Waffenverbot für unrealistisch hält, aber wie die meisten anderen Demonstrierenden fordert er ganz klar: Sturmgewehre und Schnellfeuerkolben, mit denen man in einer Minute Hunderte von Schüssen abfeuern kann, müssen verboten werden. „Solche Gerätschaften sind nicht für die Jagd oder zu Verteidigungszwecken erfunden worden. Ihr einziges Ziel ist es, viele Menschen zu töten.“ Außerdem kritisiert er das Hauptargument der Waffenbefürworter, das diese immer wieder anführen: Die Bürger bräuchten Waffen, um sich vor einer potentiell autoritären Regierung zu schützen. In einer Zeit, in der Behörden immer besser entwickelte Kontrollmöglichkeiten einsetzen, sei dies doch ein reichlich dünnes Argument. Obwohl er nicht in den USA lebe, so Vladimir, nähme er lebhaft an dieser Debatte teil und freue sich, dass der momentan herrschende Aktivismus endlich eine längst überfällige Debatte um Waffensicherheit anstößt.

Der 17-jährige Austauschschüler Michael Shanks nahm an der Demo teil, weil er im nächsten Jahr wieder zurück nach Indiana geht, um dort seinen High School Abschluss zu machen. In seinem Heimatstaat, einem sogenannten Red State mit einer Mehrheit der Stimmen für den Kandidaten der Republikanischen Partei, so erklärt Shanks, könne er wahrscheinlich in jedem Walmart eine Waffe kaufen, ohne einen Ausweis vorlegen zu müssen. So wundert es nicht, dass er sich an seiner Schule extrem unsicher fühlt, und er wünscht sich, dass die Stimme der NRA in dieser Diskussion endlich an Gewicht verliert. Seiner Meinung nach sei es zwar auch keine gute Lösung, den Bürgerinnen und Bürgern einfach ihre Waffen wegzunehmen, allerdings findet er, dass die Gesetze deutlich verschärft werden müssen. „Man sollte nicht mehr so einfach an Waffen herankommen“, forderte er, „und wer welche besitzt, sollte öfter kontrolliert werden, damit er keine Bedrohung für seine Umwelt darstellt.“

Auch Emma Nathanson und Lena Marzona waren beim Protestmarsch dabei. Die beiden 15-jährigen Schülerinnen der Berliner John-F.-Kennedy-Schule, einer deutsch-amerikanischen High School, an der man sowohl das deutsche Abitur als auch das American High School Diploma erlangen kann, fühlen sich als in Berlin lebende Amerikanerinnen unmittelbar in die Debatte involviert.

Nach ihren Beweggründen befragt geben sie zu verstehen, dass sie es wichtig finden, dass Schülerinnen und Schüler in Amerika und auf der ganzen Welt gemeinsam gegen Waffengewalt Flagge zeigen, um die lockeren Gesetze in den USA endlich zu verschärfen. Marzona hatte bereits im vergangenen Jahr am Women’s March in New York City teilgenommen und dabei die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen, die gemeinsam für eine Sache einstehen, wirklich etwas bewirken können. Beide erklärten, dass es recht schwierig sei, mit ihren deutschen Freunden über dieses Thema zu diskutieren, da man in Deutschland strenge Waffenreglementierungen gewohnt sei und Waffengewalt an Schulen hier nicht zum Alltag gehöre. Ihre deutschen Freunde, so die beiden Schülerinnen, seien angesichts des Ausmaßes der Gewalt und der ausbleibenden Konsequenzen angesichts einer solchen Tat „extrem verwirrt“.

Die politischen, historischen und kulturellen Konflikte, die in den USA in diese erbittert geführte Debatte mit hineinspielen, sei für Europäer wohl oftmals nur schwer nachvollziehbar. Viele bei dieser Kundgebung präsentierten Symbole spannten einen Bogen zu anderen Protestbewegungen, die in den vergangenen Jahren die politische Landschaft in den USA maßgeblich geprägt haben. Einige der Demonstrierenden trugen Pussy Hats, jene charakteristischen rosa Wollmützen, die beim Women's March 2017 alle Häupter zierten. Ein Protestler trug ein Schild mit der Aufschrift Black Lives Matter („Schwarze Leben zählen“), und als die Demonstration sich auflöste, legten sich viele Schülerinnen und Schüler zum Teil in ihre Banner eingehüllt flach auf den Bauch, um erschossen am Boden liegende Menschen zu symbolisieren. In Berlin hatte man bereits bei den Black Lives Matter Protesten 2016 und 2017, die sich gegen brutale Polizeigewalt gegenüber unbewaffneten Menschen mit afro-amerikanischem Hintergrund richteten, solche sogenannten Die-Ins abgehalten.

Vielleicht gehen diese Themen vor allem die in Berlin lebenden US-Bürgerinnen und Bürger etwas an und sind für die meisten Deutschen einfach zu weit weg oder schwerer nachzuvollziehen. Vielleicht toben aber auch momentan einfach nur zu viele Konflikte in der Welt, wie eine zeitgleich zum March For Our Lives stattfindende etwas kleinere Demo gegen den Krieg im Jemen vor dem Brandenburger Tor bewies und uns vor Augen führte, in welchen bewegten Zeiten wir uns gerade befinden, sowohl in den USA als auch in Deutschland. Die Leidenschaft, das Engagement und die Solidarität, die diese jungen Menschen mit ihrer Protestbewegung an den Tag legen, lassen jedoch die Hoffnung aufkeimen, dass sich Schülerinnen und Schüler vielleicht schon in naher Zukunft in den Klassenzimmern der USA nicht mehr vor Waffengewalt fürchten müssen.

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