Eines langen Tages Reise in die Nacht
Oh Boy
In Jan Ole Gersters Oh Boy sucht ein junger Mann nach dem Sinn des Lebens – und einer schwer erhältlichen Tasse Kaffee.
Von Karsten Kastelan
Als Oh Boy im Juli 2012 seine Premiere auf dem Münchner Filmfest feierte, stieß er bei dem hauptsächlich bayerischen Publikum auf ein gewisses Befremden. Viele verstanden den Film, der sich mühelos zwischen Komödie und zarten Momenten von Sehnsucht und Traurigkeit bewegt, einfach nicht.
Aber es gibt auch eine andere Theorie, warum viele Bürger des sauberen, effizienten und teuren deutschen Südens diesen Film, der den ereignisreichen Tag eines jungen Faulenzers in Berlin beschreibt, nicht sofort in ihr Herz schlossen: Er ist sehr typisch für die Stadt, in der er gedreht wurde, für ihre Menschen, ihre Rhythmen. Berlin ist anders als andere europäische Hauptstädte. Und es ist (selbst heute noch) sehr günstig, dort zu leben. Es ist sehr lebendig, bewegt sich aber mit einer gewissen Gemütlichkeit. Und all die Kleinigkeiten, die einen anständigen Bayern auf die Palme bringen würden, wie funktionsuntüchtige Automaten, Graffiti, lächerlich-ernsthaftes Off-Theater und Bars, in denen Deutsch weder gesprochen noch verstanden wird, werden hier mit preußischem Stoizismus toleriert.
Oh Boy beginnt, als Niko Fischer (Tom Schilling) so ganz nebenbei mit seiner Freundin (Katharina Schüttler) Schluss macht, ohne dies in Worte zu fassen. Er verneint ihr nettes, wenn auch etwas verzweifeltes Angebot, ihm noch einen Kaffee zu machen – was er bereuen wird, da er den Rest seines Tages damit verbringt, seine dringend notwendige Dosis Koffein zu bekommen. Er weiß nämlich nicht, was das Schicksal noch mit ihm vorhat – und das ist nicht wenig. Er wird bei seinem Idiotentest durchfallen, den er nach einem Fall von „Alkohol am Steuer“ machen muss. Er wird eine ehemalige Mitschülerin (Friederike Kempter) treffen, die er in der Vergangenheit ziemlich mies behandelt hat und die sich mit einer Form von therapeutischem Rache-Sex revanchiert. Er landet auf einem mit falschen Nazis gefüllten Filmset. Sein Vater (Ulrich Noethen) wird ihm den Geldhahn abdrehen. Und er trifft einen seltsamen Querschnitt von typischen Berlinern: einen neurotischen Theaterregisseur (Steffen Jürgens), einen besoffenen und gewaltbereiten Berliner Proll, einen übergenauen Fahrkartenkontrolleur (RP Kahl) und einen netten, traurigen alten Mann (Michael Gwisdek), der sich an den Tag erinnert, als sein Vater ihm befahl, einen Stein durch die Fensterscheibe eines jüdischen Ladens zu schmeißen.
All dies, gedreht in wunderschönem Schwarz-Weiß und unterlegt mit mal jazziger, mal minimalistischer Pianomusik, löst eine Vielzahl an Emotionen aus. Oh Boy kann oft zum Totlachen sein, aber meist passiert dies aufgrund des „Fremdschämens“, der Betretenheit, die man fühlt, wenn andere sich sehr ungeschickt anstellen. Und davon gibt es viel, weil Murphys Gesetz hier voll im Einsatz ist. Was schiefgehen kann, geht schief – Niko wirft seine letzten Euros in den Sammelbecher eines Bettlers, muss dann aber feststellen, dass sein Konto gesperrt ist, und versucht, sie wiederzubekommen. Er kommt zu spät zu einer Theaterpremiere und muss sich, unter den bösen Blicken des Restpublikums, durch die engen Sitzreihen zwängen. Und er findet heraus, dass das dicke Mädchen aus der Schule damals einen Selbstmordversuch beging, weil er sie ständig so gehänselt hat.
Aber da sind natürlich auch die schon angesprochenen zarten Töne. Als ein Freund Niko in das Apartment eines Drogenhändlers mitnimmt, verbringt er etwas Zeit mit dessen seniler Großmutter, die keine Ahnung hat, was ihr Enkel so treibt, und mit ihrem Leben sehr zufrieden zu sein scheint. Es sind diese Momente in denen einem klar wird, dass Oh Boy mehr sein will als nur eine Touristenbroschüre oder eine Komödie über die Seltsamkeiten der Berliner – und dass dies auch gelingt. Es ist ein Film über das menschliche Befinden; unsere Ängste, Sehnsüchte und die lächerlich schwachen Schritte, mit denen wir durch das tägliche Leben navigieren.
Dies gelingt besonders dank Gersters aufmerksam beobachtendem Drehbuch, Philipp Kirsamers bewegender Schwarz-Weiß-Fotografie (die selbst die bekannteste Straße zu einem einzigartigen Filmdrehort macht) und Anja Siemens' geruhsamem Schnitt, der dem Film und seinem Publikum ausreichend Freiraum zur Selbstreflexion gibt. Und natürlich dank der vielseitigen Besetzung, die junge Schauspieler (damals oft am Anfang ihrer Karrieren) mit erfahrenen Veteranen paart. Der Film stellte außerdem ein Sprungbrett für Hauptdarsteller Tom Schilling dar, dessen ruhige Performance einer verlorenen Seele ihn inzwischen auf die Wunschliste jedes Produzenten befördert hat.
Wenn Niko am Endes des Films endlich seinen heißersehnten Kaffee bekommt, wissen wir nicht wirklich, wie seine Zukunft aussehen wird. Er wahrscheinlich auch nicht. Aber wir wünschen ihm alles Gute – da seine verrückte Reise durch diese unberechenbare Großstadt noch weitergehen wird.
Autor
Karsten Kastelan ist ein in Berlin lebender Korrespondent, der seit 1991 für eine Vielzahl von Medien schreibt, darunter The Hollywood Reporter, Screen International, Moving Pictures und Die Welt. Er war Jurymitglied bei den Filmfestivals von London, Dubai, München, Kairo und Palm Springs, um nur einige zu nennen.