Dokumentarfilme
Filme, die die Welt verändern
„Es genügt nicht, zu sagen, wie viele Leute einen Film gesehen haben oder wie viele Facebook-Likes er bekommen hat“, erklärt Impact-Produzentin Hattie Archibald. „Wir helfen Dokumentarfilmen dabei, echten sozialen Wandel zu erzielen.“
Minderjährige Flüchtlinge. Schwule Rugbyspieler. Indigene Gemeinschaften in Schwierigkeiten. Das sind nur einige der großen Themen, denen die 26-jährige Australierin Hattie Archibald, Impact-Produzentin bei Screen Impact, dabei hilft, auf die Kinoleinwand zu kommen.Aber einen Film in die Kinos zu bringen, ist nur ein Teil des langen Wegs hin zu sozialem Wandel. Hattie ist Teil eines fünfköpfigen Teams in Sydney, das mit Filmregisseuren und -produzenten zusammenarbeitet, um bei der Werbung für Filme zu helfen und Partnerschaften mit Aktivisten-Organisationen zu knüpfen, die den betreffenden Film als Instrument für ihre Kampagnen nutzen können.
„Wir fragen, ‚Wie kann dieser Film die Diskussion zu einem bestimmten Thema vorantreiben?‘“, erklärt Hattie. „Aber davor müssen wir uns mit denjenigen beraten, die bereits in dem Bereich arbeiten, damit wir auch wirklich auf dasselbe Ziel hinarbeiten.“ Anders als Filme wie Kony 2012, der sich zwar viral verbreitete, aber letztlich nicht viel erreichte — manche sagen sogar, dass er sich auf das Leid von Kindersoldaten in Uganda letztlich negativ auswirkte —, stellt Screen Impact sicher, dass sich ein Film in die breitere Debatte über sozialen Wandel einfügt.
„Unser Ziel ist nicht unbedingt immer, einen Film in so viele Kinos wie möglich zu bringen. Wichtiger ist, den Leuten das Gefühl zu geben, dass sie Teil einer Gemeinschaft von Menschen sind, die Veränderungen erreichen wollen. Daher sorgen wir dafür, dass das Kino voll ist und es ein unvergesslicher Abend wird. Es kann zum Beispiel Häppchen und Wein geben, einen Vortrag von einer Partnerorganisation, eine Frage- und Antwort-Session mit dem Regisseur, eine Gelegenheit, sich für weitere Informationen zu registrieren, oder einen Ansprechpartner für alle, die den Film an ihrer Schule oder ihrem Arbeitsplatz zeigen möchten.“
Das Screen-Impact-Team beurteilt seinen Erfolg daran, wie ein Film politische Maßnahmen mitbeeinflusst oder die Art verändert hat, wie in unserer Gesellschaft über ein Thema gesprochen wird, und wie sich das Leben von Betroffenen verändert hat. „Es genügt nicht, zu sagen, wie viele Leute einen Film gesehen haben oder wie viele Facebook-Likes er bekommen hat“, findet Hattie.
Wirkung von Anfang bis Ende: Ein Beispiel
Screen Impact nahm im November 2015 seinen Anfang, als sein Gründer Simon Nasht Fördermittel von Screen Australia erhielt, um ein Team zusammenzustellen, das neue Möglichkeiten im unabhängigen Filmvertrieb erschließen sollte. Zu diesem Team gehört auch Hattie.Da das Start-up erst seit etwa einem Jahr existiert und sein erster Film erst kürzlich in die Kinos kam, lässt sich die Art von sozialem Wandel, die Screen Impact zu erreichen hofft, und die Strategien, die sie dazu einsetzen, am besten an Hatties vorhergehender Arbeit an dem Film Gayby Baby ablesen.
2012, als Hattie bei dem Vertriebs-Start-up FanDependent arbeitete, zeigten ihr die beiden angehenden Filmemacherinnen Maya Newell und Charlotte McLellan die Rohfassung einiger Szenen, die erzählten, wie es ist, in einer Familie mit gleichgeschlechtlichen Eltern aufzuwachsen. Maya ist selbst Kind zweier Mütter und ‚Gayby‘ ist das Wort, das sich die Filmemacherinnen für ein Kind mit homosexuellen Eltern ausdachten.
Als Hattie die Aufnahmen sah, wusste sie, dass diese ein großes Publikum ansprechen würden. „Die Filme, die das Publikum sehen will – die die Welt verändern können –, sind diejenigen, die große Themen an persönlichen Beispielen erzählen.“ Gleichgeschlechtliche Ehen sind in Australien noch immer nicht legal und LGBTQI-Familien sind ein kontroverses Thema, aber hier waren Aufnahmen, die die Kinder gleichgeschlechtlicher Eltern fragten, wie sie über ihre Familien dachten. „Niemand hatte jemals die Kinder im Zentrum dieser öffentlichen Debatte nach ihrer Meinung gefragt“, erklärt Hattie.
Ein loyales Publikum finden
Hattie half dabei, eine Crowdfunding-Kampagne auf Pozible zu organisieren, um Gelder für weitere Aufnahmen zu sammeln. Crowdfunding-Kampagnen sind nützlich, um eine Gemeinschaft von Menschen herzustellen, die ein Interesse am Erfolg des Films haben. Statt der Finanzierung eines Films durch ein Studio oder einige wenige Investoren hat man mit einer kritischen Masse kleinerer Geldgeber gleichzeitig auch ein loyales Publikum, das für Dynamik sorgt und Aufmerksamkeit erzeugt.Die erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne finanzierte eine längere Version des Films, der dann zu Good Pitch 2014 eingeladen wurde, einem Event im Opernhaus von Sydney, beim dem Filmemacher einer Gruppe von Nichtregierungsorganisationen, Stiftungen, Philanthropen, sozialen Unternehmern, potenziellen Firmenpartnern und Sendeanstalten ihren Film und ihre Strategie für die Entfaltung seiner optimalen Schlagkraft vorstellten. Sie erhielten Unterstützung von einer Reihe von Geldgebern, die überzeugt waren, dass Gayby Baby das Potenzial hatte, Australiens Haltung zu LGBTQI-Familien zu verändern.
Ressourcen schaffen
Mit Gayby Baby junge Menschen zu erreichen, gehörte zu Mayas und Charlottes Hauptzielen. „Man sollte keinesfalls unterschätzen, was es für Kinder, die in LGBTQI-Familien aufwachsen, bedeutet, eine Familie wie ihre auf dem Bildschirm zu sehen“, erklärt Hattie. Zu Hatties Strategie gehörte auch eine Zusammenarbeit der Filmemacherinnen mit Bildungsberatern, bei der Ausschnitte aus dem Film ausgewählt und für Lehrerinnen und Lehrer Lernpakete für den Einsatz in Klassenzimmern in ganz Australien entwickelt wurden.Dazu kam eine Partnerschaft mit der von LGBTQI-Jugendlichen geleiteten Organisation Wear it Purple, über die sie an jede Schule in Australien, die den Film 2015 als Teil ihrer ‚Wear it Purple Day‘-Feierlichkeiten zeigen wollte, kostenlose Exemplare des Films verteilten. Alles lief wie am Schnürchen – bis zum Morgen vor dem ‚Wear it Purple Day‘, als ein Artikel auf der Titelseite des Daily Telegraph, einer der größten Tageszeitungen Australiens, quer durch die konservative Presse Empörung auslöste. Der Bildungsminister von New South Wales verbot sogar, den Film während der Schulzeit zu zeigen.
Auch wenn in jener Woche einige „sehr hässliche“ Dinge über LGBTQI-Kinder und ihre Familien gesagt wurden, profitierte der Film letzten Endes von der Aufmerksamkeit der Medien. „Es gab Artikel im Kommentarteil jeder großen Tageszeitung, die den Film fast durchweg unterstützten“, erinnert sich Hattie. „Und der Premierminister von Victoria rief die Schülerinnen und Schüler in seinem Bundesstaat sogar dazu auf, sich den Film anzusehen.“
„Wir konnten sehen, wie das Wort ‚Gayby‘ in den sozialen Medien für Aufsehen sorgte. Kinder mit gleichgeschlechtlichen Eltern begannen sogar, sich selbst als Gaybys zu bezeichnen!“, erinnert sich Hattie.
Eine politische Koalition aufbauen
Ein weiteres wichtiges Ziel von Gayby Baby war es, australische Politiker zu erreichen. „Es gab jede Menge internationale Dynamik, aber die Situation in Australien ist nach wie vor schwierig“, erklärt Hattie.Um herauszufinden, wie sich hier Fortschritte erzielen ließen, nahm das Team mit Australian Marriage Equality Kontakt auf, einer der wichtigsten treibenden Kräfte für die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe, und organisierte im Parlamentsgebäude eine Podiumsdiskussion über LGBTQI-Familien. „Die Politikerinnen und Politiker hatten Gelegenheit, sich mit Gaybys im Alter von 18 bis 67 Jahren zu unterhalten. Das war ein ganz besonderer Tag“, erzählt Hattie.
Der Kampf darum, LGBTQI-Familien in Australien denselben rechtlichen Schutz zu verleihen, den der Rest des Landes genießt, tobt nach wie vor — aber Hattie ist stolz, dass Gayby Baby auch weiterhin im In- und Ausland für die gute Sache kämpft. „Der Film wurde bereits in den USA, auf internationalen Filmfestivals und in Kinos in ganz Deutschland gezeigt.“
Wie geht es weiter?
Als nächstes kommt Cast from the Storm, ein Film über minderjährige Flüchtlinge in Australien, die ihre Geschichte in einer außerschulischen Theatergruppe erzählen. Mit Hilfe von Amnesty International organisierten Hattie und ihr Team im Vorfeld des UN-Flüchtlingsgipfels eine kostenlose Onlinepremiere. „Normalerweise wäre es kommerzieller Selbstmord, einen Film kostenlos zu veröffentlichen“, erklärt Hattie, „aber für uns war es wichtiger, den Film unter die Leute zu bringen und für Mundpropaganda zu sorgen.“„Ich empfinde es als großes Privileg, diesen Filmen dabei zu helfen, ihr Publikum zu finden – und dann zu hören, wie sehr der Film die Leute bewegt hat. Die Zuschauer möchten sich informieren und mit neuen Ideen konfrontiert werden.“