Loyalität kontra Gerechtigkeit
Die psychologische Dimension des Whistleblowing

Demonstranten mit einem Pfeifenkostüm bei einer Demonstration gegen die Münchner Sicherheitskonferenz
Bei vielen Demonstrationen, wie hier beim Protest gegen die Münchner Sicherheitskonferenz 2020, ist die Unterstützung von Whistleblowern wie Julian Assange und Pressefreiheit fester Bestandteil. | Foto (Detail): Sachelle Babbar © picture alliance / ZUMAPRESS.com

Whistleblower*innen haben offenbar einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und Freiheit. Doch was bewegt sie dazu, ihre Arbeitgeber*innen oder Staatsbeamt*innen anzuzeigen? Psychologe Mark Travers präsentiert vier Erkenntnisse im Zusammenhang mit Staatsgeheimnissen, Transparenz und Whistleblowing.

Von Mark Travers

In den vergangenen Jahren haben zahlreiche öffentlichkeitswirksame Informationslecks in der Regierung eine lebhafte Diskussion über Geheimhaltung, Transparenz und Whistleblowing in Regierungskreisen ausgelöst. Den wichtigsten Anstoß für diese Debatte lieferte die umstrittene Onlineplattform WikiLeaks mit der Veröffentlichung geleakter Regierungsdokumente. Seit 2007 hat Wikileaks millionenfach Verschlusssachen der Regierung offengelegt.

Die Debatte nahm 2013 an Fahrt auf, nachdem der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden mehr als 15 000 geheime Dokumente zu umfassenden Überwachungsprogrammen der Nationalen Sicherheitsagentur NSA geleakt hatte. Edward Snowdens Enthüllungen lösten Empörung bei all denen aus, die das Vorgehen der NSA als Form der illegalen Regierungsspionage betrachteten. Andere wiederum verteidigten die Aktionen der NSA und werteten die Programme als notwendige Maßnahmen zum Schutz nationaler Sicherheitsinteressen der USA.

Das Vorgehen von WikiLeaks, Edward Snowden und anderen stellt die Gesellschaft vor ein grundlegendes Dilemma: Schützt oder gefährdet die Veröffentlichung vertraulicher Informationen das Allgemeinwohl?

Einerseits könnte man argumentieren, dass transparente Regierungsarbeit eine notwendige Voraussetzung für die Förderung einer gut funktionierenden Demokratie ist. Andererseits ist ein gewisses Maß an Geheimhaltung in Regierungskreisen sicherlich unabdingbar.

Die Tatsache, dass die öffentliche Meinung mit Blick auf die Enthüllungen von WikiLeaks und Edward Snowden geteilt ist, zeigt wie komplex diese Angelegenheit ist. Laut einer Umfrage des Pew Research Center zur Reaktion auf die Veröffentlichung geheimer Dokumente zum Krieg in Afghanistan vertraten 47 Prozent der US-Amerikaner*innen die Auffassung, das Vorgehen von WikiLeaks schade dem öffentlichen Interesse, 42 Prozent meinten dagegen, es diene dem öffentlichen Interesse. Eine Umfrage zu den Enthüllungen von Edward Snowden hat ergeben, dass sich 35 Prozent der Befragten in den USA dafür aussprachen, Snowden für den Leak geheimer Dokumente nicht vor Gericht zu stellen, 25 Prozent waren der Auffassung, er müsse die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen, und 40 Prozent gaben an, dass sie nicht wüssten, was mit Snowden geschehen solle.

Was sagt die psychologische Forschung zu diesem komplexen Phänomen? Im Folgenden werden vier Erkenntnisse über die psychologische Dimension von Staatsgeheimnissen, Transparenz und Whistleblowing vorgestellt.

Erkenntnis #1: Nur weil etwas geheim ist, hat es nicht zwangsläufig auch einen Wert.

Whistleblower*innen bringen Informationen ans Licht, um Amtsmissbrauch innerhalb einer Einrichtung offenzulegen und das Fehlverhalten auf diese Weise zu beenden. In vielen Fällen sind die veröffentlichten Informationen unter Verschluss oder geschützt, was den Eindruck verstärkt, geheime Informationen seien per se wertvoll.

Doch das ist nicht immer der Fall. Die US-Regierung erklärt beispielsweise Jahr für Jahr Millionen von Dokumenten zu Verschlusssachen. Viele dieser Dokumente sind nicht wichtiger, interessanter oder aufschlussreicher als öffentlich zugängliche Staatsdokumente.

Eine Studie aus dem Jahre 2014 hat ergeben, dass es eine Art „vorgefasste Meinung mit Blick auf Verschlusssachen“ gibt oder eine Tendenz zu glauben, Geheiminformationen seien qualitativ hochwertiger als öffentlich zugängliche Informationen und Entscheidungen auf der Grundlage geheimer Informationen seien fundierter als Entscheidungen auf der Grundlage öffentlicher Informationen — sogar in Fällen, in denen nachweislich keinerlei Unterschied zwischen geheimen und öffentlich zugänglichen Quellen besteht.

Erkenntnis #2: Forschungsergebnisse zeigen, dass Whistleblower*innen einem bestimmten Typ entsprechen

Eine Studie hat ergeben, dass die demografischen Merkmale von Whistleblowern einem bestimmen Muster folgen. So gehören Whistleblower*innen einer Organisation in der Regel schon länger an und bekleiden höhere Positionen. Zudem sind sie in der Mehrzahl der Fälle männlich und verfügen über ein höheres Bildungsniveau.

Einer weiteren Studie war zu entnehmen, dass sich Whistleblower*innen häufiger durch eine extravertierte Persönlichkeit auszeichnen. In Punkto Freundlichkeit erzielen sie schlechtere Ergebnisse und gelten eher als dominante/kontrollierende Persönlichkeiten.

Dies könnte man so interpretieren, dass Whistleblower*innen möglicherweise auf der Suche nach Auseinandersetzung und Aufmerksamkeit sind. Andererseits könnte man sich auch fragen, in wie vielen Fällen unethisches Verhalten unbemerkt bleibt, weil Menschen nicht über die erforderlichen Persönlichkeitsmerkmale oder über die entsprechende Stellung in ihrem Unternehmen verfügen, um eine Whistleblowing-Kampagne in Angriff zu nehmen.

Insight #3: Die Bereitschaft zum Whistleblowing ist kulturell bedingt.

Whistleblowing erfordert ein Abwägen zwischen den zwei konkurrierenden moralischen Werten: Gerechtigkeitssinn und Loyalität. Und Untersuchungen zeigen, dass es Angehörigen bestimmter Kulturkreise leichter fällt, sich auf die Seite der Gerechtigkeit zu schlagen. Kollektivistische Kulturen, darunter Japan, China und Taiwan, haben eine weniger positive Einstellung gegenüber Whistleblowing als „individualistischen“ Kulturen wie die USA. Dies liegt daran, dass kollektivistische Kulturen mehr Wert auf Gruppenharmonie, Loyalität und Rücksichtnahme legen als individualistische Kulturen.

Zudem beeinflusst psychologische „Nähe“ nachweislich die Entscheidung für oder gegen Whistleblowing. Laut einer Studie nimmt die Bereitschaft der Befragten, auf Regelüberschreitungen hinzuweisen, mit der Nähe zwischen der befragten und der die Regeln überschreitenden Person ab. Mit anderen Worten fällt es leichter, die Taten eines unbekannten Mitglieds einer Organisation zu enthüllen als die von Vorgesetzten oder eines anderen altgedienten Mitglieds.

Erkenntnis #4: Allein die Tatsache, dass jemand eine Enthüllung plant, bedeutet noch lange nicht, dass er oder sie es tatsächlich auch tut

Psycholog*innen verweisen gern darauf, dass die Ankündigung einer Tat nicht zwangsläufig ein Handeln nach sich zieht. Dieser Grundsatz gilt auch für das Whistleblowing. In einer Studie aus dem Jahre 2012 behauptete eine Mehrheit der Befragten, sie würden eine Studie offenlegen, die sich unethischer Methoden wie sensorischer Deprivation bediente. Doch nur eine kleine Minderheit hielt tatsächlich an diesem Plan fest, als sie auf die Probe gestellt wurde.

Eine Studie aus dem Jahre 2009 ermittelte einen weiteren zentralen Faktor, der die Entscheidung über die Enthüllung von unethischem Verhalten beeinflusst: Die Befragten protestierten bereitwilliger gegen unethisches Verhalten, sobald die Grenzüberschreitung eklatant und unerwartet anstatt langsam und schleichend erfolgte. Die Wissenschaft spricht hier auch vom „Slippery-Slope Effect“, also dem unaufhaltsamen Abgleiten in unethisches Verhalten, das unter anderem auch darauf zurückzuführen sei, dass fortgesetztes unethisches Verhalten den Beteiligten schlicht und einfach nicht auffalle.

Schlussfolgerung

Die Wissenschaft ist sich einig, dass Whistleblowing trotz seiner Fallstricke dem öffentlichen Wohl dient und gesetzlich geschützt werden sollte. Leider greifen die gegenwärtigen Verfahren zu kurz. So fühlten sich laut einer Studie beispielsweise mehr als 80 Prozent der Angestellten, die Unternehmensbetrug offenlegten, durch ihr Vorgehen in ihren Karrierechancen benachteiligt. Demokratische Gesellschaften in aller Welt sollten der Einrichtung sicherer und effektiver Kanäle, über die Whistleblower*innen mutmaßliches unethisches Verhalten melden können, oberste Priorität beimessen.

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