Danachgedanken
Reflexionen für eine Post-Corona Zeit
Von Romila Thapar
In den vergangenen Jahrhunderten sind Epidemien nicht allzu häufig aufgetreten. Die asiatische Literatur enthält weniger Hinweise auf verheerende Epidemien als die europäische. In Europa löste die Pestepidemie, der Schwarze Tod, im 14. Jahrhundert die größtmögliche Katastrophe aus. Einige behaupten, dass der Ursprung der Pest in Zentralasien oder China lag und sie ihre Reise entlang der Seidenstraße fortsetzte – möglicherweise mit den mongolischen Heeren auf ihren Eroberungszügen nach Europa und auf den Schiffen der Genueser Händler, die Geschäfte mit dem Osten machten. Kurioserweise breitete sie sich zwar nicht in Zentralasien aus, dagegen aber rasend schnell in Europa, um anschließend in der islamischen Welt um sich zu greifen. Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn die Seidenstraßen, die so viel wirtschaftlichen Wohlstand bescherten, auch eine derart verheerende Katastrophe über die reicheren Akteure dieser Wirtschaftssysteme gebracht hätten. Damals nahmen Reisen und Kommunikation viel Zeit in Anspruch und standen nur wenigen Menschen offen, und doch konnte die Krankheit über weite Gebiete wüten.
Dies hatte viele Folgen. Die Hälfte der Bevölkerung Europas wurde dahingerafft, und es traf insbesondere diejenigen, die unter unmenschlichen Bedingungen in den dicht besiedelten Stadtgebieten lebten. Weitere Krankheiten griffen um sich. Der Tod naher Angehöriger hatte gravierende Auswirkungen auf das Familienleben. In vielen Ländern kam es zu wirtschaftlichen Umbrüchen, und wirtschaftliche Stabilität konnte erst nach mehreren Jahrzehnten wiederhergestellt werden. Religiöser Fanatismus, Astrologie und Aberglaube verschiedenster Art nahmen zu. Es gab Übergriffe gegen einzelne Bevölkerungsgruppen – etwa gegen die Juden, die als Schuldige gebrandmarkt wurden. Nebenbei entstanden auch einige feinsinnige Geschichten wie die aus der Anthologie Das Dekameron von Boccaccio. Die Schöpfer dieser Geschichten waren Menschen, die aus dem pestgeplagten Florenz in die Selbstisolation geflüchtet waren. Auf gewisse Weise erscheint dies alles sehr vertraut und hat den Anschein eines Déjà-vu.
In unserer globalisierten Welt, in der die Menschheit immer weiter zusammenrückt, ist davon auszugehen, dass sich eine Krankheit schnell und über Grenzen hinweg ausbreitet. Die Globalisierung brachte mit sich, dass die Gesellschaften zum gegenseitigen wirtschaftlichen Nutzen engere Bindungen eingehen, und zwar so eng, dass eine der schlimmsten Krankheiten die Welt problemlos im Sturm erobern und den Zusammenbruch unserer Wirtschaften auslösen konnte. War die Globalisierung nicht darauf ausgerichtet, Lebensstandards zu verbessern, Armut zu beseitigen, Gesundheitsversorgung und Bildung für alle zu gewährleisten und Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit sicherzustellen? Was ist geschehen? Können wir auch künftig an der Globalisierung festhalten? Unsere Hoffnungen zerfallen jeden Tag aufs Neue zu Asche, und wir bereiten uns auf die Zerstörung der Welt vor.
Wird es, wenn alles vorüber ist, noch genügend umsichtige Menschen für einen Neuanfang geben? Und womit werden sie beginnen? Auf welche Schwerpunkte werden sie sich konzentrieren? Werden sie das wiederaufbauen können, was wir anstrebten – ethische Gesellschaften, die zur Menschlichkeit erzogen wurden. Oder werden die Verschlinger dieser Normen, die in der jüngsten Geschichte so aktiv waren, weil wir sie ließen, uns auch weiterhin erpressen und daran hindern, die gesellschaftliche Ordnung nach unseren Vorstellungen zu überdenken. Wird unsere Furcht vor dem Unsichtbaren und unsere Unsicherheit über das, was morgen geschehen mag, jemals vollständig vorübergehen?
Die derzeitige Krise wird lediglich mit der Epidemie in Zusammenhang gebracht. Wir sind damit befasst, wie wir uns davor schützen können. Das ist legitim. Doch bei dieser Krise geht es nicht nur um die Epidemie. Auch mit Blick auf den menschlichen Umgang mit Extremsituationen haben wir es mit einer Krise zu tun. Mit jedem neuen Tag, an dem die Aufhebung der Ausgangssperre in weitere Ferne rückt, wird dies deutlicher zutage treten. Die Ausgangssperre birgt viele Probleme, für die es keine Lösungen gibt. Für Menschen mit Gehältern und regelmäßigen Einkommen wird die Schließung von Arbeitsplätzen lediglich mit spürbaren Verlusten verbunden sein. Diejenigen jedoch, die von einem täglichen Einkommen abhängig sind, werden kein Geld mehr haben, um sich etwas zu essen zu kaufen. Wie viele Hunderte von Menschen werden ohne Nahrung auskommen müssen. Und sind Hungerrevolten nötig, damit sie etwas zu essen bekommen? Wo werden diese Revolten stattfinden – in den städtischen Slums, in den verstopften Stadtzentren, auf den Straßen, auf denen die Wanderarbeiter verzweifelt versuchen, zu Fuß in ihre Dörfer zurückzukehren, um dem Hungertod zu entrinnen? Eine Lebensmittelknappheit könnte Hungersnöte und auch einen Schwarzmarkthandel mit Lebensmitteln zur Folge haben. Auch dies werden all diejenigen überleben, die ein Einkommen haben. Alle anderen werden untergehen.
Für Millionen von Menschen weltweit wird es keine Arbeit geben, und all die Volkswirtschaften, die sich nicht selbst aus der Depression befreien können, werden zusammenbrechen. Alle Menschen mit einem Einkommen werden sich Normalität wünschen, aber Normalität ohne bezahlte Arbeit wird es nicht mehr geben können. Politiker*innen werden Ausgangssperren als politische Lösungen nutzen, um ihre Macht zu sichern, auch wenn diese Macht einer Sicherung nicht würdig ist. Verschiedene Auswüchse des Totalitarismus werden ihre Blütezeit erleben. In Liedern über die Gesellschaft wird nur noch vom Leid gesungen.
Wie kann Normalität aussehen? Dafür müssen die Überlebenden erneut lernen, was einen würdevollen Tod ausmacht – ganz gleich unter welch schrecklichen Bedingungen. Hoffen wir nicht, dass zu viele Menschen sterben, um sie in Einzelgräbern zu bestatten. Wenn wir um ein würdevolles Leben bemüht sind, muss uns auch an einem würdevollen Tod gelegen sein. Durch die Krise geraten wir an einen Scheideweg, an dem wir unsere Überzeugungen hinterfragen müssen, die uns davon ausgehen ließen, dass wir ein immer besseres Leben führen würden. In Wirklichkeit führten wir unser Leben hoffnungslos am Abgrund. Normalität wird sich nur dann einstellen, wenn wir uns für ein anderes Leben entscheiden. Die Globalisierung wird der Vergangenheit angehören. Das Hauptziel wird in der Unabhängigkeit von Ländern, möglichweise sogar von Gemeinschaften bestehen, die für sich selbst sorgen können. Dies setzt eine umfassende Dezentralisierung von Wissen, Dienstleistungen, Kommunikation und Lebensentwürfen voraus. Wir werden uns fragen müssen, ob die angebliche Sicherheit der digitalen Kommunikation und Kontakte nicht in Wirklichkeit eine Illusion ist. Es wird eine Rückbesinnung auf persönliche Kontakte geben müssen. Vielleicht muss zunächst die globale Solidarität aufgelöst werden und den Weg für lokale Solidarität freigeben.
Die Forderungen nach mehr sozialer Distanzierung werden immer lauter. Paradoxerweise haben einige Gesellschaften wie die indische eine eingebaute soziale Distanzierung durch das Kastensystem. Wird sich diese Situation weiter verschärfen? Der Einsatz von Technologien und anonymen Maschinen bei menschlichen Tätigkeiten wird zunehmen, und wir werden in eine stärkere Abhängigkeit von künstlicher Intelligenz geraten. Um den Menschen selbst wird es so gut wie gar nicht mehr gehen.
Das Covid-19-Virus wird natürlich nicht verschwinden, doch es wird über Jahrzehnte schrittweise eingedämmt und dann eine von vielen weiteren Krankheiten sein, die in dieser Welt um sich greifen. Von Zeit zu Zeit wird es sein hässliches Antlitz zeigen. Werden wir erkennen, dass diese Pandemie eine historische Zäsur ist, die uns in Wirklichkeit dazu zwingt, unsere Vorstellungen von der menschlichen Zivilisation auf den Prüfstand zu stellen, sowohl als Ausdruck der Menschlichkeit als auch in ihre Beziehungen zu der Erde, auf der wir leben? Und sollten wir im Verlauf dieser Überlegungen nicht den Anspruch entwickeln, die menschliche Natur menschlicher zu machen?