Ein Agent auf dem Rücksitz
Wie ich früher als andere zu Abschaum wurde
Der Autor dieses Textes ist Journalist aus einer nichthauptstädtischen russischen Stadt. Er wurde als einer der ersten mit dem Status des ausländischen Agenten „ausgezeichnet“. Sein Text beschreibt, wie Menschen den Krieg gegen die Ukraine wahrnehmen, die schon zuvor als „Volksfeinde“ galten.
Das Urteil
Der damalige Morgen begann für mich, wie für viele Russ*innen derzeit, mit einem Gerichtstermin. Der Prozess um die Prüfung meiner möglichen Deklarierung als „ausländischer Agent“ zog sich bereits einige Monate hin. Am letzten Verhandlungstag – 4 Uhr morgens nach Kyjiwer Zeit – sagte ich mir, dass diese Suche nach Illoyalen eine Katastrophe nach sich ziehen würde.„Kiew“ ist die deutsche Version des russischen Namens der ukrainischen Hauptstadt. Auf Ukrainisch heißt es Київ (Kyjiw). Spätestens seit der Invasion ist die Bezeichnung „Kiew“ zu einem symbolischen Überbleibsel der russisch-sowjetischen Kolonialisation geworden. Respektvoller ist es, die Hauptstadt der Ukraine als „Kyjiw“ zu transkribieren. Dasselbe gilt für Lwiw − ukrainisch Львів, russisch Львов | Anm. d. Red.
Sie fragte, ob ich das Urteil verstanden hätte. Natürlich hatte ich das. Am 24. Februar sagte man mir ein weiteres Mal: „Du bist keiner von uns.“ Den anderen sagte man an diesem Morgen genau das Gleiche – aber erstmals in dieser Deutlichkeit und Skrupellosigkeit.
Wie früher
Auf den Stufen vor dem Gericht murmelte die Anwältin etwas von Berufung und beschwerte sich über die herrschende Gesetzlosigkeit. Sie hatte noch gar nicht erfasst, was geschehen war.„Scheißegal für uns“, dachte ich.
Für uns, das heißt für die russischen Aktivist*innen und Journalist*innen. Der physische Maßstab der „Demilitarisierung“ war damals noch nicht absehbar. Ebenfalls war nicht klar, wer „entnazifiziert“ werden würde, und wie genau. Ganz offensichtlich war hingegen, dass die „Spezialoperation“ im Inneren Russlands bereits begonnen hatte.
Bis zum 24. Februar hatte ich schon lange nicht mehr als Journalist gearbeitet und war bei einer großen Firma angestellt. Doch das Etikett „ausländischer Agent“ zerstört dich vollständig. Es erlaubt keinerlei Spielraum. Du bist in erster Linie Volksfeind, und dann vielleicht noch irgendwer anders.
Nach dem Beginn der „Spezialoperation“ ging es einer großen Anzahl von Menschen genauso wie mir. Gesellschaftliche Aspekte schwappten über ins Private: die politische (eigentlich eher ethische) Positionierung spaltete Familien und Freundschaften.
Für viele Russ*innen waren die Nachrichten nicht weniger wichtig für ihre kleine Welt, das Alltagsleben und die Wochenendpläne als die Nachrichten im Familienchat. Man muss sie lesen, denn es könnte das letzte gemütliche Treffen mit Freund*innen sein, der letzte Arbeitstag oder sogar der letzte Tag in Freiheit – und das alles nur aufgrund irgendwelcher Nachrichten.
Bis zum 24. Februar betraf das „ausländische Agent*innen“ oppositionelle Politiker*innen und unabhängige Journalist*innen – plötzlich galt es für alle. An diesem Tag waren Nachrichtenfeeds die Rettung. Denn durch sie wurde man wütend – und Wut ist bekanntlich der beste Feind der Hilflosigkeit. Es ist uns eben doch noch nicht ganz scheißegal. Wir haben Hände, Füße, Kopf und Internet. Und immerhin leben wir noch.
Ich habe dennoch nichts in die Öffentlichkeit getragen – am ersten Tag nicht und bis heute nicht. Meine Wut konnte sich weder gegen meine Angst noch meine Hilflosigkeit durchsetzen, denn beide sind seit der Bezeichnung als „ausländischer Agent“ untrennbar mit mir verbunden. Ich habe einige Stunden auf der Polizeiwache verbracht, der Verlag, bei dem ich arbeitete, wurde als ungesetzlich eingestuft und ich selbst zum Volksfeind erklärt. Ich verlor meine Arbeit, meinen Beruf und mein Selbstbewusstsein. Und nur mit großer Mühe nicht den Verstand.
An diesem Tag kamen nur wenige meiner Bekannten zur Mahnwache, um ihre Unterstützung für „ausländische Agent*innen“ auszudrücken. Wofür auch? Niemand braucht uns, und wir werden niemandem etwas beweisen können. Wir haben verloren, beschloss ich, und schwieg.
Gegen Ende dieses schrecklichen Februars hatte sich immer noch nichts verändert. Man müsste mal etwas posten. Aber ist das sinnvoll? Was kann ich schon noch sagen? Man sollte mal wieder zu einem Meeting gehen. Für wen?
„In Moskau sind nur wenige Leute gekommen“, schrieb eine befreundete „ausländische Agentin“. „Man wird uns alle in Lager stecken.”
Man sollte ausreisen.
Exodus
Gespräche über Emigration gab es überall: in allen Medien, Telegram-Kanälen, Bars und Cafés.Fast alle „ausländischen Agent*innen“ sind mittlerweile ausgereist, auch IT-Leute, selbst einer meiner Bekannten, der in der Regionalverwaltung arbeitete. Ohne Geld und Job, einfach nur mit einem Rucksack. Und das waren Leute wie wir, die wussten, dass sie nicht zurückzukehren würden.
Ich bekam Panik. Und wollte nicht als „ausländischer Agent“ ohne Rückreiseoption gehen, sondern wenigstens als IT-ler – die Sache aussitzen und beobachten, was noch alles kommt. Denn da war sie wieder, die Angst.
Dass ich arbeitslos wurde, zerstörte meine Pläne. Die Firma bekam die Folgen der Sanktionen zu spüren, und niemand wollte sich mit der Abwicklung meiner Ausreise beschäftigen.
Etwas später reiste ich ein zweites Mal nicht aus – dieses Mal aus Kraftlosigkeit und weil ich mich nicht in der Lage sah, etwas zu verändern. Und wegen des unerträglichen Gedankens, dass ich endgültig mit Russland brechen müsste und nie wieder hierher zurückkehren könnte. Schließlich, weil es weder hier noch dort besser werden würde.
Die Kraftlosigkeit überkam mich nicht sofort. Dazu kam es, als ich beschloss, zu bleiben und nach der Erklärung zum „ausländischen Agenten“ zu schweigen. Ich entschied mich damals dafür, zu bleiben und „mich zurückzuhalten.“
Im Hinterland
Meiner Angst und Kraftlosigkeit steht aktuell nur eines gegenüber: der Wunsch, ein Mensch zu sein. Kein Volksfeind, kein Kämpfer für Recht und Freiheit, sondern einfach nur ein Mensch.Mir als Mensch geht es gut hier in meiner Stadt. Während in der Ukraine die fürchterlichsten Dinge geschahen, erblühten hier die Bäume. Auf einen ungewohnt warmen Frühling folgte ein sonniger Sommer. Ein Sommer, in dem diese marode Stadt zu etwas ganz Herrlichem wird. Wir leben hier im Hinterland, hier fallen keine Bomben, es gibt nur wenig Geflüchtete. Wir scheinen derartig weit vom Zentrum der Welt entfernt, dass einfach gar nichts passiert.
Allerdings hing am Haus der Kulturen plötzlich ein riesiges Banner mit dem Buchstaben „Z“. Die Busse sind übersät mit „Z“-Aufklebern, die hiesigen Beamten äußern sich wohlwollend gegenüber der „Spezialoperation“ und unterstützen sie vehement. Die Leute nehmen an „patriotischen Flashmobs“ teil. Immer wieder dringt die Polizei mit einem Durchsuchungsbefehl im Rahmen der neuen Gesetze zur Zensur bei jemandem in die Wohnung ein oder nimmt Menschen, die arglos ihrer Unzufriedenheit darüber Ausdruck verleihen, mit aufs Revier.
Doch man kann auch seine Meinung für sich behalten, an Regierungsgebäuden vorbeigehen und nicht auf die Banner achten oder am besten überhaupt nicht aufschauen, um keine Augenkrankheiten zu riskieren, ja, nur aus diesem Grund. Man kann einfach nur leben, und schon scheint das alles gar nicht mehr so furchterregend zu sein. Da ist dann nur diese wunderbare, blühende, leicht staubige, aber dennoch so vertraute Stadt.
Diese Gefühle ähneln denen, die ich damals hatte, als man mich zum „ausländischen Agenten“ machte. Irgendwo in der Ferne vernahm ich ein Grollen – in den weit oben gelegenen Büros des Kreml in einigen Tausenden Kilometern Entfernung. Hier aber war alles ganz ruhig.
Damals ging das nur mich etwas an – was sollte mich also jetzt daran hindern, mich aus der Gesellschaft zurückzuziehen und ein ruhiges Leben zu führen? So, wie alle Leute nach und nach vergessen… außer denen natürlich, denen akut Bomben und Raketensplitter auf den Kopf fallen.
Denn wie unser ehemaliger Präsident Medwedew (unbewusst auf die Strugazki-Brüder Bezug nehmend) einmal befand: Wir sind Abschaum. Auf uns haben weder die flammenden Beiträge der Fernsehsender noch der beruhigende Gesang der Vögel einen Effekt. Durch all das hindurch hören wir ein Schluchzen. Wir sehen den schwarzen Berg, den Abgrund, den die Katastrophe gerissen hat und an dessen Rand die Welt steht – auf Zehenspitzen und sekündlich in Gefahr, hineinzustürzen.*
Wir können nicht wegfahren, und wir können uns nicht integrieren in dieses unzweifelhaft neue Land, dieses postfebruale Russland.
Ich bin früher als andere zu Abschaum geworden. An den „ausländischen Agent*innen“ wurde ein Experiment durchgeführt.
Nicht alle Versuchspersonen waren bereit, Abschaum zu werden, und so verließen sie das Land. Diese Emigrant*innen bleiben für immer Bürger*innen des vorfebrualen Russlands, genau wie ihre Vorgänger*innen des ersten postrevolutionären Krieges. Sie haben die Heimat verloren – wir dagegen unsere menschliche Gestalt. Sie können offen agieren, helfen und kämpfen. Wir können uns nur vor Schmerzen krümmen, wenn die Mobilfunkmasten einmal wieder auf Hochtouren laufen. Doch je genauer man diese neue Welt und den eigenen Platz in ihr wahrnimmt, desto schneller vergehen Angst und Hilflosigkeit.
*Anm. der Redaktion: Im Text bezieht sich der Autor auf Bücher der bekannten sowjetischen Science-Fiction-Schriftsteller Arkadi und Boris Strugatzki, insbesondere auf ihren Roman „Die bewohnte Insel“ (rus. «Обитаемый остров»), der 1969 in russischer Sprache erschien.
Das Projekt „Dunkle Zeiten, Helle Nächte“ des Goethe-Instituts in Kooperation mit dem Magazin dekoder lädt Autorinnen und Autoren sowie Film- und Medienschaffende in Russland und im Exil ein, den neuen Alltag seit dem 24.2.2022 zu dokumentieren und zu reflektieren. Weitere Beiträge sind im Dossier auf dekoder zu finden.