Geflüchtete Kinder
Körperlich bei der Mutter, in Gedanken beim Vater
Auf einer Rakete, die Anfang April in der ukrainischen Stadt Kramatorsk einschlug, war die Aufschrift „für die Kinder“ zu lesen. Sie ist zu einem Symbol der russischen Aggression gegen die Schwächsten geworden. Die Hilfe, die ihnen beispielsweise in der Slowakei zukommt, kann das Leben einzelner Menschen und einer ganzen Generation beeinflussen.
Von Kristina Böhmer
Der Krieg zerstört das Leben von Millionen Menschen in der Ukraine und nimmt dabei keine Rücksicht auf irgendetwas, nicht einmal auf das Alter. Die Geschichten von Kindern, die in den Kriegsgebieten zurückgeblieben sind, und derjenigen, die geflohen sind und ihre Häuser, ihre Freunde, Schulen und Spielsachen zurücklassen mussten, handeln von einer verlorenen und traurigen Kindheit, aber gleichzeitig auch von posttraumatischen Belastungsstörungen und einem kollektiven Trauma, das eine ganze Generation mit sich in die Zukunft tragen wird.
Wenn sie keine Hilfe bekommen.
„Krieg hat das größte Traumapotential“, so die Psychologin Jana Vyskočil, die mit traumatisierten Klient*innen arbeitet, sowie mit solchen, die gerade ein akut belastendes Ereignis hinter sich haben. „Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass sogar die dritte Generation nach dem Holocaust Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung aufweist, ohne den Holocaust selbst erlebt zu haben.“ Gleichzeitig, so fügt sie hinzu, spielten eine Reihe von Faktoren eine Rolle, und Kinder, die den Krieg erlebt haben, könnten sich davon wieder erholen.
Wenn sie Hilfe bekommen.
Abschied vom Vater
Im ersten Monat nach Beginn der Invasion mussten laut UNICEF-Angaben 4,3 Millionen Kinder ihr Zuhause verlassen, mehr als die Hälfte der minderjährigen Bevölkerung der Ukraine. Es war eine der schnellsten und größten Fluchtbewegungen von Kindern seit dem Zweiten Weltkrieg, und es ist immer noch nicht vorbei. Im Juni sprach UNICEF bereits davon, dass zwei Drittel der Kinder ihre Heimat verlassen haben und innerhalb der Ukraine oder ins Ausland geflohen seien.
„Wie durch ein Wunder gelang es ihnen, in einen Evakuierungszug zu gelangen“, schrieb mir im März meine ehemalige Nachbarin Jana, die seit der Besetzung ihres Heimatdorfes in der Region Donezk durch prorussische Separatisten in Barcelona lebt. „Also meine Schwester und ihre Tochter und unsere Mutter. Die Männer blieben“, fügte sie hinzu. Sie verabschiedeten sich am Zugfenster und der Zug fuhr los. Ich fragte Jana, ob sich ihre Nichte darüber im Klaren sei, dass sie ihren Vater vielleicht nicht wiedersehen würde. Sie wusste keine Antwort.
Der Psychologin Jana Vyskočil zufolge empfinden Kinder derartige Abschiede sehr intensiv. „Etwas, das verbunden war, ist physisch nicht mehr verbunden“, erklärt sie. „Viele Kinder verfolgen intensiv die Nachrichten und kommunizieren mit ihren Vätern, wollen wissen, wo sie sind, ob es ihnen gut geht. Die Kinder wollen, dass die Väter an ihrem Leben teilhaben. Viele Kinder, mit denen ich gearbeitet habe, haben Väter, die militärische Befehlshaber sind, und ein Großteil ihrer Aufmerksamkeit war dort, in der Ukraine bei ihren Vätern, nicht hier, wo sie selbst bereits in Sicherheit sind.“
Stress wird durch die Eltern wahrgenommen
Jana Vyskočil zufolge wird das Nervensystem von Kindern nach dem Vorbild des Nervensystems von Erwachsenen reguliert, und Kinder lesen in dieser Situation die Gefühle ihrer Eltern, auch wenn sie sie vielleicht nicht ganz verstehen. Dies wurde auch bei der humanitären Organisation Človek v ohrození (Mensch in Gefahr) festgestellt. „Kinder kopieren ihre Eltern oder den entsprechenden Erwachsenen, der sie begleitet. Wenn die Erwachsenen damit umgehen können, haben die Kinder keine größeren Probleme. Wenn die betreffende Person jedoch selbst unter enormem Stress steht und nicht die Ressourcen hat, sich zu stabilisieren, dann spiegelt sich das auch im Kind wider“, bestätigt Simona Stískalová, Sprecherin der Organisation.
„Kinder verarbeiten ihre Erfahrungen im Spiel. Sie spielen auch Krieg und andere derartige Sachen, und denken sich dabei zum Beispiel ein besseres Ende des Krieges aus. Bei Teenagern ist das jedoch ganz anders. Sie sind oft über soziale Medien miteinander verbunden, und es ist hilfreich, wenn sie ihre eigenen Freundeskreise bilden. Sie sehen sich Satellitenbilder von Orten an, an denen sie gelebt haben und wo ihr Haus einst stand. Sie alle suchen ihren eigenen und individuellen Weg, um schwierige Situationen zu verarbeiten“, fügt sie hinzu.
Viele Kinder haben Tage, Wochen, wenn nicht sogar Monate in Kellern, unterirdischen Bunkern oder U-Bahn-Stationen unter entsetzlichen Bedingungen verbracht. Viele haben einen beschwerlichen Weg zurückgelegt, sind mit ihren Müttern zu Fuß unterwegs gewesen. Aber selbst wenn sie mit dem Zug oder einem Auto gefahren sind und ein Sandwich in der Hand hatten, bedeutet das nicht, dass der Verlust ihres gesamten bisherigen Lebens sie nicht wahnsinnig schmerzt und ängstigt. Deshalb ist das erste, was sie brauchen, wenn sie in der Slowakei ankommen, ein Gefühl der Sicherheit.
Sie müssen sich in einer normalen Umgebung entwickeln
Stískalová erzählt uns die Geschichte einer Mutter, die mit zwei Kindern in die Slowakei kam: einem 11-jährigen Jungen und einem kleinen Baby. „In der Unterkunft kam es zu Problemen zwischen den Kindern und ihrem 11-jährigen Sohn, der Autist ist. Die Kinder hielten ihn für aggressiv, hatten Angst vor ihm, liefen vor ihm weg und akzeptierten ihn nicht in der Gruppe. Da der Junge viele Reize und Belastungen in der Umgebung wahrnahm, was in einem Flüchtlingsheim oder in einem Kinderzentrum ganz normal ist, wurde er unruhig und verhielt sich aggressiv“, beschreibt sie.
Daraufhin kontaktierte eine Mitarbeiterin von Človek v ohrození eine Organisation und eine Schule, die auf autistische Kinder spezialisiert ist. Der Junge kam auf eine neue Schule und nahm an Treffen und Rehabilitationsmaßnahmen teil. „Alle sind beruhigt über diese Lösung. Später gelang es ihnen auch, eine private Wohnung zu finden und die Flüchtlingsunterkunft zu verlassen, was ebenfalls sehr wichtig war“, fügt Stískalová hinzu.
Ein Freund vor Ort: unbezahlbar
Verständnis ist das Wichtigste. Die Bewältigung schwieriger Situationen ist für Kinder genauso individuell wie für Erwachsene. Stískalová erzählt von einem Jungen, der sich weigerte, Slowakisch zu lernen. „Man muss auch mit den Leuten in der Schule zusammenarbeiten, damit auch sie versuchen, diese Kinder […] als Kinder zu verstehen, die Träume haben und sich manchmal krampfhaft an sie klammern", erklärt sie.
Für einige kann das Erlernen der slowakischen Sprache nämlich bedeuten, dass sie den Gedanken an eine baldige Rückkehr nach Hause aufgeben sollen, was laut Stískalova für ein Kind, dessen Vater an der Front kämpft, unerträglich sein kann. Vielleicht sieht das Kind es sogar als Verrat an seinem Vater.
Kinder aus der Ukraine brauchen nicht nur Verständnis, sondern auch – wie jedes Kind auf der Welt – Stabilität, Familie, Sicherheit. Stabiler Wohnraum, klare Regeln. Schule, Ausbildung, Alltag und medizinische Versorgung. Und dazu, so Stískalova, wäre es sehr hilfreich, wenn sie jemanden hätten, der ihnen zeigt, wie das Leben in der Slowakei funktioniert.
Sie fügt hinzu, dass nicht alle Kinder aus der Ukraine, die in die Slowakei kommen, traumatisiert sind. Dies sei vor allem der Hilfe zu verdanken, die sie erhalten haben. Es liege nun auch an den Helfenden in der Slowakei und anderswo, wie die Zukunft der Ukraine aussehen wird, denn die Zukunft sind die Kinder, und wir können ihnen helfen, damit sie zumindest die schrecklichen Erlebnisse, die sie nicht vergessen und aus ihrem Bewusstsein löschen können, so gut wie möglich verarbeiten und ein möglichst erfülltes Leben führen können.
Dieser Text ist zuerst im Deutsch-tschechisch-slowakischen Onlinemagazin Jádu erschienen und dort in voller Länge zu lesen.