Queeres Schreiben als Kunstform
Notizen zu meinen schwulen Gefühlen
Von William Johnson
Als Erstes war meine Ästhetik schwul.
Im Alter von zehn Jahren war ich besessen von amerikanischen Seifenopern. Ich hatte kein Interesse an den üblichen Jugend-Fernsehserien, stattdessen war ich wie gefangen von den Kleinstadt-Eskapaden und der Theatralik von General Hospital und Dynasty. Als die „Königin über alles, soweit das Auge reicht” – Alexis Carrington Colby – in einem Anfall von unerwidertem Liebeswahn versehentlich von der Brücke stürzte, spürte ich ihren Schmerz.
Als die archetypischen Liebenden auf der Flucht, Luke Spencer und Laura Webber, ein romantisches Date nach Ladenschluss in der Einkaufspassage genossen, schwelgte ich in romantischer Glückseligkeit. Und als Steven Carrington seine Familie um sich versammelte, um eine historisch gewordene Diskussion über seine Sexualität zu führen, fand ich einen übergroßen Weggefährten. Melodrama, übertriebene Gefühlsausbrüche, die obszöne, extreme Ernsthaftigkeit, die schon fast an Wahnsinn grenzt, all das sind Hinweise für das Stereotyp eines männlichen Homosexuellen und gleichzeitig die kennzeichnenden Eigenschaften meiner im Alter von zehn Jahren aufblühenden Empfindsamkeit. Mein Kunstgeschmack war schwul, noch bevor ich es sein konnte.
Warum gibt es diese Hinweise? Warum begehrt und erstellt ein Teil der homosexuellen Gemeinschaft diese unmissverständlichen Artefakte? Ich denke, all das entstammt aus einem Gefühl des Verlangens. Begierde gestaltet unsere Sicht auf die Welt. Selbst im jungen Alter hatten meine Sehnsüchte einen einzigen, stark aufgeladenen emotionalen Fokus. Ich wollte geliebt werden! Ich wollte verstanden werden! Ich wollte einen großen Auftritt haben! Ich wollte in meinem Zimmer sitzen und vor mich hinbrüten! Ich suchte nach Hinweisen in der Popkultur, um einen Sinn hinter all dem zu finden. Wie bei Alexis, bei Steven, bei Luke und Laura machten mich meine traurig-glücklichen Gefühle und meine exzentrischen Leidenschaften ganz schwummerig.
Diese bestimmte schwule Art des Seins scheint, ferner, in einer bestimmt queeren Art des Fühlens begründet zu sein. Diese queere Art des Fühlens – diese queere Persönlichkeit – drückt sich durch eine ganz eigene, andersartige Art aus, kulturelle Objekte (Filme, Songs, Kleidung, Bücher und Kunstwerke) und kulturelle Formen im Allgemeinen (Kunst und Architektur, Oper und Musiktheater, Pop und Disko, Style und Fashion, Emotionen und Sprache) zu verstehen. Als kulturelle Praxis übt männliche Homosexualität eine ganz spezifische Art der Aufnahme, Uminterpretation und Wiederverwendung der Massenkultur aus.
Aus „How To Be Gay“ von David Halperin
In seinem Buch How to Be Gay bietet der Wissenschaftler und Schriftsteller David Halperin eine breitangelegte Analyse dieser ganz spezifischen, schwulen Sensibilität: die Art und Weise mit der queere Kultur heteronormative Kultur benutzt und von innen nach außen dreht, wie diese Veranlagung „dabei hilft, das Leiden des Schmerzes zu lindern, ohne diesen zu verleugnen”. Mein einziger Kritikpunkt an Halperin ist, dass er argumentiert, dass diese Form von Wertschätzung erlernt, ja vererbt wird, von einem schwulen Mann zum nächsten. Niemand hat mir beigebracht, Dynasty oder, wenn wir schon dabei sind, Diana Ross und Lil Kim zu lieben. Meine innere Sehnsucht hat nach diesen Geschichten gesucht. Ich bin, unfassbar aber wahr, wirklich „Born this Way” (so geboren). Als ich älter wurde, fand ich heraus, dass diese ästhetischen Marker mächtig waren. Richtig ausgerichtet, konnte diese eigensinnig zusammengestellte Ansammlung an unterschiedlichen Geschmäckern machtvolle Totems, ja Leuchttürme errichten: schwule Kunst, die mit explizit schwuler Stimme spricht. Manuel Puig, Edmund White, Essex Hemphill, Marlon Riggs, Reinaldo Arenas, Andy Warhol und John Waters zeigten mir den Weg. Schwule Ästhetik führt häufig zu inspirierender, verstörender und großartiger Kunst.
In meinem letzten Jahr an der High School bekam ich ein kreatives Projekt zugeteilt. Der Lehrer bat die Klasse, Herman Melvilles Moby Dick durch ein literarisches oder performatives Werk neu zu interpretieren.
Ich versammelte meine Freunde um mich und wir kreierten eine Art absurdes Radiostück, das wir Moby Dick on The Love Boat nannten.
In diesem Stück bucht der melancholische Wal Moby Dick eine Kabine auf dem ikonischen Kreuzfahrtschiff Pacific Princess. Moby ist auf dem Weg der Besserung nach einer gescheiterten Beziehung zu einem absolut liebenswerten, wenn auch leicht verrückten Walfänger namens Ahab. Moby bucht die Kreuzfahrt, um sich wohlverdiente Ruhe zu gönnen und sich von der leidenschaftlichen, wenn auch problembeladenden Beziehung zu erholen.
„Tragischerweise kommen wir aus absolut unterschiedlichen Welten ...”, klagte der Wal.
Unglücklicherweise für Moby hat aber auch Ahab eine Kabine an Bord des gleichen Kreuzfahrtschiffes gebucht. Am Ende laufen sich die beiden schließlich zufällig in der Acapulco Lounge über den Weg und eine aufgeheizte Debatte entbrennt. Sie streiten sich über die Natur der Begierde an sich und die destruktive Natur von intensiver, romantischer Liebe. Der Streit artet schließlich in Gewalt aus und in einem Anfall von Wut versenkt Moby das Schiff mit allen Passagieren an Bord.
Ich bekam eine Zwei minus für dieses Projekt.
Im März 2017 bat mich das Festival Neue Literatur eine Podiumsdiskussion zum Thema zeitgenössische, deutsche LGBTIQ*-Literatur zu moderieren. Unter dem Titel „Silence is Violence: LGBTQ Writing in Fracturing Political Climate” kam eine Gruppe aus mehreren deutschsprachigen und einem englischsprachigen Autoren zusammen, alle hatten in ihren Werken einen deutschen LGBTIQ*-Protagonisten.
Ich startete die Diskussion mit dem Versuch, LGBTIQ*-Literatur einzugrenzen. Es stimmt, wir alle waren in einer Zeit von politischer und kultureller Spannung zusammengekommen, aber zuerst wollte ich herausfinden, wie wir als Gruppe LGBTIQ*-Literatur eigentlich definieren. Wird sie durch eine bestimmte Sensibilität bestimmt, ist es die Thematik oder doch etwas ganz anderes?
Also fragte ich die Gesprächsrunde: „Denkt ihr, dass es so etwas wie eine schwule Ästhetik gibt?” Und die einstimmige Antwort aller war „Nein”.
Die Autoren auf dem Podium sagten, dass sie zuerst Schriftsteller wären und alles andere, inklusive ihrer Sexualität, käme danach.
Das war der Moment, in dem ich wusste, niemand auf diesem Podium liebte Dynasty so wie ich.
War etwas in der kulturellen Übersetzung verloren gegangen? Ließ sich meine Erfahrung von schwulen Vorstellungen nicht in die aktuelle deutsche Nomenklatur übersetzen? Wollten diese Sprecher etwa nicht in ihren Zimmern sitzen und vor sich hin brüten?
Das Festival-Podiumsgespräch war eine wichtige Erinnerung für mich, dass die (westliche) schwule Ästhetik von Emotionalität nicht überall vorherrscht. Nicht jeder schwule Mann ist durch die Extremität seiner Gefühle definiert. Ja, vielen haben genügend, um eine Art von Sensibilität zu formen. Aber vielleicht muss diese Sensibilität ja gar nicht mehr die treibende Kraft hinter schwuler Kunst sein. Oder vielleicht versuchen diese deutschen Künstler ja auch, die Grenzen dieser Stereotypen hinter sich zu lassen.
Ich bin ein Stereotyp, eins, das eine Vielzahl in sich vereint. Ich denke nicht, dass ich bereit bin, das loszulassen.
Das queere amerikanische Konzept ist, Kraft aus dem Stereotypischen zu ziehen, es zu erwecken, zu transformieren und Heu in Gold zu verwandeln. Was, wenn man es genau betrachtet, bereits mit der amerikanischen Rhetorik zum Thema Selbstbewusstsein verbunden ist.
Aber was jetzt? Wie sieht schwules Schreiben aus, wenn es nicht um die schwule Sensibilität kreist? Ich nahm mir die Übersetzungen der deutschen Autoren von der Podiumsdiskussion vor. Lyrisch und gewissenhaft ausgeführt waren die Werke, die ich las, voll mit vorwärtsgerichteten Erzählsträngen und wundervollen Charakterstudien. Die Texte waren kunstvoll gefertigte Erzählungen, die chaotische Emotionalität nur als Nebenprodukt für die Struktur verwendeten. Eventuell ist unsere stark eingeschriebene, schwule „Mundart” gar nicht mehr notwendig, wenn wir mehr und mehr integriert werden.
Aber ... aber ... vielleicht wird mein Herz weiterleben! Dank des Internets wird das heimische Feuer weiter brennen. Die Kinder werden uns retten (mich). Vor kurzem habe ich eine Ansammlung an Social-Media-Accounts gefunden, die von einer Gruppe Millennials erstellt und geführt werden und die ausschließlich der feinen Kunst der Faggotery gewidmet sind. Nichts stirbt jemals wirklich.
Ich habe einmal einer unerwiderten Liebe ein Mixtape mit Liebessongs von Shirley Horn geschickt. Ich habe den Mix Horn of Plenty genannt. Ich liebe Shirley Horn, ihre Songs können entweder als dramatisch ernst oder als tragisch ironisch gesehen werden, je nach Stimmung. Und meine Stimmung ist immer eine Mischung aus beidem.
I had my share
I drank my fill
And even though I'm satisfied
I'm hungry still
To see what's down another road beyond the hill
And do it all again
– Here's to Life, Shirley Horn
Das Herz will, was das Herz will. Meine Sehnsüchte sind in der Pfanne gebraten. Ich bin, was ich bin: ein 45 Jahre alter Homosexueller, der Musicals, Proust, Jazz und Disko liebt. Meine homosexuellen Gefühle durchdringen alles. Von jetzt an gibt es kein Zurück.