Informelle Siedlungen
German Shantytown
Siedlungen, die ungeplant entstehen und sich selbst organisieren, werden von deutschen Städteplanern nicht mehr als Problem empfunden, sondern als Vorbilder gesehen. Was genau können deutsche Großstädte lernen?
Die Zentren deutscher Großstädte sterben aus. Der Wohnraum ist dort teuer und knapp, Familien ziehen in die umliegenden Gebiete und gehen zum Einkaufen lieber in die großen Einkaufszentren. In die Stadt kommen sie nur noch zum Arbeiten oder Sightseeing. Hochhäuser findet man in den Innenstädten genauso selten wie alternative, gemeinschaftliche Wohnkonzepte. Ein Großteil der innerstädtischen Immobilien wird gewerblich vermietet oder an Investoren vergeben. In Städten wie Caracas in Venezuela dagegen pulsiert das Leben auch mitten in der Stadt. Sinnbildlich dafür steht der Torre David: Die Bewohner nutzen das Haus ohne die Genehmigung der Behörden, so wie sie es brauchen. Sie passen die vorhandene Architektur – ein Haus ohne Fenster und Putz – an ihre Bedürfnisse an. Hier wird gewohnt, gelernt und eingekauft. Mit dem Torre David ist eine selbstorganisierte Shantytown mitten in Caracas entstanden.
Immobilien flexibler nutzen
Dies wäre in Deutschland nicht ohne weiteres möglich. Hier werden die Gesetze, die festlegen, was wann und wie gebaut werden darf und soll, genauestens eingehalten. Neben bürokratischen Hürden spielt auch der allgemeine Sinn für Ästhetik sowie die Kultur und Mentalität eines Landes in der Stadtplanung eine Rolle. Man baut nicht einfach ein Hochhaus mitten auf den Marktplatz, nur weil es machbar ist. Aber wäre es nicht sinnvoll, Immobilien flexibler zu nutzen? Denn nicht nur die Metropolen in Venezuela, Indonesien und anderen Schwellenländern werden immer dichter bevölkert, auch in Deutschland ziehen immer mehr Menschen in die Städte. Die Mieten steigen, der Verkehr nimmt stetig zu, natürliche Ressourcen werden aufgebraucht. Und der deutsche Staat scheint durch Wirtschaftskrisen und die Liberalisierung der Märkte immer weniger in der Lage, diese Infrastrukturen aufrechtzuerhalten und auszubauen. Die Bevölkerung muss langfristig mehr Verantwortung für ihre Städte übernehmen, hat dies aber noch nicht gelernt – anders als etwa in Caracas. In informellen Siedlungen wird die Architektur immer liberaler. In Deutschland dagegen, so Herbert Klumpner, Professor für Architektur und Urban Design an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich, seien Stadtplanung und Architektur „gefrorene Politik“.
Gemeinschaften stärken, Ressourcen nutzen
Ein Mehr an Verantwortung stärkt auch die Gemeinschaften. Der Soziologe Richard Sennett beschreibt, dass Kooperationen wie die in Caracas in Gesellschaften, in denen Städte hierarchisch geplant werden, noch nicht erprobt sind. „Die Menschen müssen Fähigkeiten entwickeln, um physisch mit ihren Nachbarn auszukommen, und mehr noch sozial.“ In Medellin in Kolumbien sind die Gemeinschaften laut Sennett beispielsweise schon weiter. Hier werden Bibliotheken und Krankenhäuser von lokalen Aktionsgruppen gebaut. Auch in Berlin gibt es Beispiele für Gemeinschaftsinitiativen wie etwa das ehemalige Krankenhaus am Urban, das heute als Baugruppenprojekt von mehreren Parteien bewohnt wird, oder das Stadt-Quartier „Möckernkiez“ – aber dies sind Ausnahmen.
Deutsche Städteplaner und Architekten können sich viel von den Entwicklungen in informellen Siedlungen weltweit abschauen, um flexibler auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren. Vielleicht haben wir in deutschen Großstädten bald Hochhäuser, die früher einmal als Firmensitz fungierten, und in denen jetzt Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten arbeiten und leben. Oder gemeinschaftliche und generationenverbindende Wohnanlagen, die ökologisch nachhaltig, interkulturell und sozial integrativ sind.