Wohnungsnot
Wohnungslos trotz Vollzeitjob

Obdachloser
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Ein Zimmer, Küche, bankrott: Einige deutsche Großstädte sind mittlerweile so teuer, dass selbst Menschen mit festem Einkommen oft dauerhaft wohnungslos sind. So wie Sonia Nigris in München.

In der vornehmen Münchner Maxvorstadt sitzt Sonia Nigris in einem Hinterhof auf einem weißen Plastikstuhl. Englischer Garten, Königsplatz, Stachus, Frauenkirche – fast alle Sehenswürdigkeiten der Stadt kann man von hier aus in ein paar Minuten erlaufen. Nigris, eine stämmige Frau von 48 Jahren, steckt sich eine Zigarette an. Seit Januar lebt sie in einer der teuersten Ecken der Republik, im Zentrum von München, einer Stadt, die unter chronischem Wohnungsmangel leidet. Selbst wer Geld hat, braucht Glück und viel Geduld, um hier eine passable Bleibe zu finden, aber Frau Nigris hatte weder großes Glück noch sonderlich viel Geld. Zurzeit hat sie in einer Notunterkunft für Wohnungslose Obdach gefunden.

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Die Anzahl der Menschen, die in Deutschland ohne Wohnung leben, steigt seit Jahren. 2016 waren es Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zufolge – denn verlässliche Statistiken gibt es nicht – 860.000 Menschen (440.000 davon sind anerkannte Flüchtlinge). Dieses Jahr sollen es 1.200.000 sein. Der Anstieg um rund 358 Prozent seit 2014 geht größtenteils darauf zurück, dass seit 2016 auch anerkannte Flüchtlinge mitgezählt werden, die keine Wohnung finden. Es gibt aber viele Gründe dafür, dass Menschen wohnungslos werden.  Die Mietpreisentwicklung ist einer von ihnen. Der Wohnungsmarkt in den deutschen Großstädten ist hart geworden. Allein in München sind die Mietpreise zwischen 1995 und 2017 um über 70 Prozent gestiegen, ohne dass die Löhne auch nur annähernd Schritt gehalten hätten.

Das Problem der Wohnungslosigkeit hat die Mitte der Gesellschaft erreicht

Und so gerät neuerdings auch die arbeitende Bevölkerung unter Druck. „Das Problem hat die Mitte der Gesellschaft erreicht“, sagt der Präsident des Deutschen Caritasverbandes Peter Neher. So auch bei Sonia Nigris, die Vollzeit in einer Kantine arbeitet, einen unbefristeten Vertrag hat und ungefähr 1.400 Euro netto im Monat verdient – offenbar nicht genug für eine Einzimmerwohnung im Raum München.

Anfang der 1990er-Jahre zieht Nigris mit ihrem Mann aus Triest nach München. Aus Liebe zu der Stadt, die sie damals als „so quirlig und doch nicht so chaotisch wie Berlin oder Rom“ empfindet. Sie und ihr Mann finden eine große, helle Wohnung in München-Riem – nicht gerade zentral gelegen, aber dafür mit ausreichend Platz für ihre drei Söhne. Doch als sich Nigris und ihr Mann 2005 trennen, ist die Wohnung auf einmal zu groß und zu teuer für sie alleine.

Sie zieht für einige Zeit in eine kleinere Wohnung, verlässt dann für zwei Jahre München, sehnt sich aber schon bald nach der Stadt und ihren drei Söhnen. 2013 kommt sie zurück und zieht erst einmal in die Wohnung eines Bekannten. Nigris sucht sich einen Job in einer Kantine mit solidem Monatslohn. Sie will nicht länger auf der Couch ihres Bekannten schlafen und durchforstet Angebote auf Vergleichsportalen im Internet: 800 Euro, 900 Euro, auch im Speckgürtel. In der Innenstadt 1.100 Euro, 1.200 Euro. Auf Wohngeld hat sie keinen Anspruch, sagt sie, dafür verdient sie schon zu viel.

Wie soll ich denn überleben, wenn ich den Großteil meines Geldes für eine Wohnung ausgebe? Was habe ich von meinem Leben, wenn ich den ganzen Tag arbeite und nach Feierabend nichts machen kann, außer in meiner leeren Wohnung zu sitzen?

Nach ein paar Monaten muss Nigris bei ihrem Bekannten ausziehen. Sie zieht zu ihrem Sohn, bis der Vermieter protestiert und sie abermals weiterziehen muss. Für ein paar Monate schläft sie bei einer Freundin auf der Couch. Dann muss sie auch da ausziehen und zieht für einige Zeit in einen Keller, ohne Dusche, ohne Küche, ausgestattet nur mit einem spartanischen Bett. Ein Bekannter lässt sie da wohnen. Aber auch das geht nicht lange, und Frau Nigris zieht wieder weiter zu einer anderen Freundin. Jedes einzelne Mal, wenn sie einen ihrer Freunde um Obdach gebeten hat, so sagt sie, hat sie das ein bisschen von ihrem Stolz gekostet. Jede Wohnung wäre ihr lieber gewesen als dieses Vagabundentum. Nur: In ihrer Gehaltsklasse gab es nichts.

Offiziell darf man in der Notunterkunft nur acht Wochen bleiben. Sonia Nigris ist eine urbane Nomadin

Am 3. Januar dieses Jahres schließlich zieht sie in das Frauenobdach Karla 51. Die Zimmer hier sind neun Quadratmeter klein und karg eingerichtet: 90 Zentimeter breites Bett, ein kleiner Holzstuhl und Holztisch in Jugendherbergs-Chic und eine Schrankwand. Die Fenster sind klein, und auf den Fluren riecht es säuerlich nach Ammoniak.

„Aber wer hier landet, der hat noch Glück“, weiß Elke Gartner, eine Sozialarbeiterin, die dort arbeitet. „Karla 51 ist eine der besser ausgestatteten Einrichtungen.“ In vielen anderen Notunterkünften müsse man sich die Zimmer teilen, ganz so, als würde man in einem Hostel leben.

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Heute, nach gut viereinhalb Monaten, zieht Nigris wieder aus der Notunterkunft aus – zu einer anderen Freundin. Offiziell darf man in der Notunterkunft nur acht Wochen bleiben. Sonia Nigris ist eine urbane Nomadin. Gezwungenermaßen. Sie würde gerne mit einer Freundin zusammenziehen, doch eine bezahlbare, WG-taugliche Wohnung ist nicht in Sicht.

In den Münchner Notunterkünften sind Menschen wie Sonia Nigris, die einen festen Job, aber ein relativ geringes Einkommen haben, längst keine Seltenheit mehr. „Sie kennen ja den Wohnungsmarkt in München“, sagt eine Mitarbeiterin der Münchner Caritas bedeutsam. Immer mehr Menschen, die vor zehn Jahren noch aus der Innenstadt in die Randlagen verdrängt wurden, können sich heute auch das Leben in der Vorstadt nicht mehr leisten. Entweder müssen sie raus aus München, oder sie gehen in die Wohnungslosigkeit. Artikel 106 Absatz 1 der Bayerischen Landesverfassung besagt eigentlich: Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung. Doch was nützt es, wenn es nicht genug bezahlbaren Wohnraum gibt? Auf eine Sozialwohnung kämen in München Hunderte Bewerber, sagt Gartner.

Ein paar hundert Mal hat Frau Nigris sich schon auf Wohnungen in München beworben, sagt sie, darunter auch einige, die sie sich nur gerade eben so hätte leisten können. „Wenn die dann fragen, was ich verdiene, bin ich raus.“ Laut einer Schätzung des Münchner Netzwerks Wohnungslosenhilfe leben rund 9.000 Wohnungslose in der Stadt, von denen etwa 350 ein festes Einkommen beziehen. Und trotzdem leben sie in Notunterkünften, zum Teil jahrelang, manche sogar unter der Brücke. Die Notunterkünfte und die Sozialwohnungen der Stadt sind völlig überlastet, räumen Beamte der Stadt auf Nachfrage ein. Wer gar kein Glück hat, muss auch schon mal auf der Straße schlafen.


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Zum wievielten Mal Nigris gerade umzieht, weiß sie selbst schon gar nicht mehr so genau. Im Gepäck hat sie ihre Klamotten, ihren Hund, ein paar Topfpflanzen, ein kleines Fernsehgerät und einen akkubetriebenen Staubsauger. Das ist alles, was die 48-Jährige besitzt, abgesehen von ein paar Kartons, die sie bei ihrem Sohn untergestellt hat. Was sie schon seit Jahren nicht mehr hatte, ist eine echte Privatsphäre – auch in der Notunterkunft muss sie sich stets an- und abmelden.

Ohne Wohnung sei der Alltag ein dauerndes Provisorium. Sonia Nigris hat sich die dicken braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, aus dem einzelne graue Strähnen hervorschimmern. Auf ihrem rechten Oberarm verbleicht langsam eine Tätowierung. Alle paar Minuten fummelt sie eine Zigarette aus ihrem silbernen Etui heraus und steckt sie sich in den Mund. Ihr Gesicht ist von tiefen Falten gezeichnet, aber verzweifeln will sie nicht: „Mein Leben ist umtriebig“, sagt sie und lacht ihre rasselnde Raucherlache.

Morgens steht sie um halb fünf auf, hat um sieben Uhr zur Arbeit zu erscheinen und kocht bis in den Nachmittag in einer Kantine. Danach sieht ihr Tag seit fünf Jahren etwa so aus: nach neuen Wohnungen suchen, manchmal zu Besichtigungen gehen – danach hat sie selten noch Zeit, sich mit Freunden zu treffen. Abends reicht die Kraft oft gerade noch, um am Handy herumzuspielen, manchmal auch, um fernzusehen, bevor sie schlafen geht: auf der Couch von einer Freundin, im Keller eines Bekannten oder in der Notunterkunft.

Es ist über ein Vierteljahrhundert her, dass Nigris nach München gezogen ist, weil sie die Stadt so lebenswert fand. München hat sich seitdem verändert. Allein in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Wohnungslosen mehr als verdreifacht, wie offizielle Stellen auf Anfrage bestätigen. Trotzdem liebt Nigris die Stadt noch immer und will hier bleiben. Ihre Freunde und ihre Söhne wohnen hier. Hier hat sie einen sicheren Job. „Wieso sollte ich gehen?“

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