Interview
mit Ibrahim Hotak

Nach dem Sturz der Taliban herrschte seit 2001 in Afghanistan Aufbruchsstimmung. Das brachte Ibrahim Hotak dazu, nach Afghanistan zurückzukehren, um das Land beim Wiederaufbau zu unterstützen. Er arbeitete zunächst als Programmmitarbeiter am neu eröffneten Goethe-Institut in Kabul mit und war von 2015-2019 der Leiter des Instituts. Ibrahim Hotak gibt spannende Einblicke in die Kulturarbeit in diesen Jahren des Aufbruchs. 

Ibrahim Hotak in Kabul Foto: privat


Herr Hotak, wie sind Sie zum Goethe-Institut Afghanistan gekommen?

Es war ein schicksalhafter Zufall. Nach dem Sturz der Taliban-Regierung 2001 wollte ich in meine Heimat zurückkehren, um auch bei dem Wiederaufbau des Landes mitzuhelfen. Anfang 2003 zurückgekommen musste ich jedoch feststellen, dass es noch zu früh war, um irgendwo eine Orientierung zu finden und mit etwas Neuem zu beginnen. So bin ich erst einmal wieder nach Deutschland zurückgekehrt.

2004 traf ich zufälligerweise einen alten Freund, der mich fast vorwurfsvoll fragte, was ich immer noch hier machte, wo das Land doch befreit ist und qualifizierte Menschen dringend gebraucht wurden. Das wollte ich mir nicht zweimal sagen lassen. Ende 2004 ging ich erneut nach Kabul und habe dort mein erstes Gespräch am Goethe-Institut Kabul geführt. Der damalige Leiter des Instituts (Dr. Norbert Spitz) bat mir eine Stelle als Programmkoordinator an, allerdings erst ab dem Frühjahr 2005. So ging ich zurück nach Deutschland, packte meine Siebensachen und landete im Frühjahr 2005 in Kabul und begann sofort mit der Arbeit beim Goethe-Institut Kabul. Ich war froh, ein Stück Deutschland in Afghanistan haben zu können und vor allem die schöne und schwierige deutsche Sprache weiterhin nutzen zu können.

Wie sah die damalige Kulturlandschaft in Afghanistan aus? Welche Entwicklungsmöglichkeiten gab es damals für Künstler*innen und Kulturschaffende in und aus Afghanistan?

Es gab keine Kulturlandschaft, es war eine Wüste des Grauens. Das Land war völlig zerstört. Vor allem die Hauptstadt Kabul lag buchstäblich in Trümmern – 20 Jahre Krieg hatten tiefe Spuren hinterlassen.

Mit allem musste von vorne, fast von Null begonnen werden. Die Chancen, etwas Neues anzufangen waren gut und die Möglichkeiten etwas zu schaffen waren auch gegeben. Die internationale Gemeinschaft war vor Ort, wenn auch in erster Linie mit politischem und militärischem Fokus. Internationale Kulturinstitutionen, darunter auch das Goethe-Institut, bauten erst allmählich ihre Präsenzen in Kabul auf.

Welche kulturellen Aktivitäten standen damals im Vordergrund? Welche Themenschwerpunkte setzte sich das Goethe-Institut Afghanistan? Haben sich diese Schwerpunkte mit der Zeit geändert?

Zwanzig Jahre Krieg, Vertreibung und Exil haben zahlreiche Künstler*innen und Kulturschaffende aus dem gesellschaftlichen Leben verbannt. Viele sind ins Ausland gegangen, andere hatten den Mut und die Hoffnung verloren und waren mit der Bewältigung des täglichen Lebens beschäftigt. Kunst und Kultur standen nicht unbedingt an der obersten Stelle der Agenda. Wir mussten zunächst ein Kunst- und Kultur-Mapping erstellen, eine Art Bestandsaufnahme dessen, was noch übriggeblieben war, sowohl personell als auch physisch-materiell. Viele Kultureinrichtungen wie das Nationaltheater „Kabul Nandari“, Afghan Film oder RTA (Radio Television Afghanistan) mussten erst einmal wieder notdürftig funktionsfähig gemacht werden. Die ersten strukturellen Hilfen wurden geleistet.

Ein weiterer Fokus lag darin, Künstler*innen und Kulturschaffende ausfindig zu machen und zu vernetzen, sie physisch zusammenzubringen. Dafür sollten Plattformen und Formate wie Künstler*innen-Treffen, Versammlungen und Festivals geschaffen werden. Somit wurde unter anderem eine sehr bunte und aktive Festivalkultur kreiert und kultiviert.

Mit dem Neubeginn waren in Afghanistan alle Themen und Sparten aus Kunst und Kultur relevant. Es erschien uns aber sinnvoll, mit den eher traditionellen bzw. etablierten Bereichen wie Literatur, Musik, Film und Theater zu starten. Natürlich spielte auch die Frage der eigenen Kapazitäten und Möglichkeiten eine Rolle. Eine konzentrierte und fokussierte Arbeit war gefragt. Neben den Sachleistungen wurde der Fokus nun auch auf inhaltliche Inputs gelegt. Vorhandene Kenntnisse und Kapazitäten wurden durch Workshops, Seminare und Aus- und Fortbildungen vertieft. Beispielsweise wurde das Curriculum der Fakultät der schönen Künste der Universität Kabul mitgestaltet, neue Ideen und Impulse wurden darin integriert.

Die Schwerpunkte änderten sich nicht, wurden aber weiter ergänzt. Vor allem hat sich bei kulturellen Kooperationen mit Akteur*innen vor Ort eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe entwickelt. Darüber hinaus entstand eine freie Kulturszene. Sie wurde zum neuen Bestandteil der Kulturlandschaft und somit auch zum neuen Partner. Damit kamen auch neue Themen, neue Perspektiven und Diversitäten mit ins Spiel. Die Kulturlandschaft des Landes blühte allmählich auf, wurde bunter und erfolgreicher.

Von 2015 bis 2019 waren Sie Leiter des Goethe-Instituts in Kabul. Welche kulturelle Aktivität hat bei Ihnen persönlich den größten Eindruck hinterlassen?

Alle, weil ich bei allen Aktivitäten mit ganzem Herzen dabei war. Wir haben fast alle Aktivitäten gemeinsam mit den Partnern konzipiert und durchgeführt. Selbstverständlich kam es dann auch vor, dass einige Aktivitäten auch eine persönliche Handschrift trugen, weil ich sie entwickelt und kuratiert habe. Dazu gehörten z. B. das nationale Literaturfestival und die Animationsfilmschule „AfghAnimation“, um nur zwei Beispiele zu nennen. Was aber tatsächlich sehr prägend war, waren die Begeisterung, das Engagement und die Lust vieler junger Menschen für Kultur. Insbesondere hat mich das immer weiter wachsende Interesse und die Beteiligung der Mädchen und Frauen an kulturellen Aktivitäten mit eigenen Ideen erfreut und geprägt.

Eine Sache, die mich wirklich stolz machte, war die Thematisierung der Kinderliteratur auf nationaler Ebene. Mit der Schwerpunktsetzung Kinderliteratur auf dem 4. Literaturfestival war das Thema in den Fokus der Schriftsteller*innen und der Gesellschaft gerückt. Auch zahlreiche Kinderbücher wurden aus dem Deutschen in die Landessprachen übersetzt und publiziert. 2010/11 weiteten wir unsere Aktivitäten auch in den Norden und die Stadt Mazar-e Sharif aus. Dort hatten wir beispielsweise übersetzte Kinderbücher im Rahmen einer Kindertheateraufführung verteilt. Als ich die fünf bis sechs verschiedenen Exemplare einem kleinen etwa acht bis zehn Jahre alten Mädchen zeigte, fragte ich sie am nächsten Tag, ob ihr die Bücher gefallen haben, was sie bejahte. Als ich fragte, ob sie denn auch eines davon gelesen hatte, antwortete sie „Na klar, und zwar alle!“. Ich war völlig sprachlos und begeistert, wie hungrig diese kleinen Menschen auf Lesen und Lernen, auf Geschichten und auf Bildung waren. Daran denke ich sehr gerne zurück.

Seit der Machtübernahme der Taliban 2021 sind kulturelle Aktivitäten in Afghanistan stark erschwert bis unmöglich gemacht worden. Bilder von Musiker*innen, die ihre Instrumente zerstörten, gingen um die Welt. Was ist heute im Land noch möglich?

Das sehr strenge und verengte ideologische Verständnis der Machthaber von Kultur lässt kaum noch Raum für freie kulturelle Aktivitäten. Musik ist verboten – das besagt Einiges. Ein Widerstand ist nicht oder kaum möglich, zumindest nicht öffentlich. 

Hinzu kommt, dass die große Auswanderung von Künstler*innen und Kulturschaffenden ins Ausland im Land eine große Lücke hinterlassen hat. Dort herrscht der Stillstand des Kulturbetriebes. Man kann sagen, dass die Kultur zwar noch lebt, aber momentan nur im Käfig der Ideologie.

Was ist heute von der damaligen Kulturarbeit in der Zeit zwischen 2001-2021 übriggeblieben?

Vieles, vor allem in den Köpfen und Herzen der Menschen. Die 20 Jahre haben eine neue Generation hervorgebracht. Das bedeutet ein neues gesellschaftliches und kulturelles Bewusstsein, Weltoffenheit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Man ist nicht mehr bereit, blanko Gutscheine der Mullahs für das Paradies zu akzeptieren. Man hat gelernt zu widersprechen und genau darauf wird es auch in Zukunft ankommen.

Wie wird und kann sich Ihrer Ansicht nach die Lage für Künstlerinnen und Künstler in Afghanistan und im Exil entwickeln?

Die Chancen stehen gut! Europaweit, aber vor allem in Deutschland, existieren zahlreiche Programme und Aktivitäten die versuchen, das Vakuum des kulturellen Schaffens für die neuen Exilkünstler*innen zu füllen. Dazu gehören z. B. das Stipendienprogramm der Martin Roth-Initiative für Künstlerinnen und Künstler. Es ist ein integratives Programm, um die ersten Hürden im Kulturbetrieb zu überwinden, sich auszuprobieren und zu orientieren.

Das Projekt Goethe-Institut im Exil ist ein lebhaftes Beispiel für kulturelle Aktivitäten von Künstlern und Künstlerinnen, die auf einer freien Bühne sich und ihr Können präsentieren können. Gleichzeitig ist es auch eine Plattform, um mit der Gesellschaft interagieren und sich vernetzen zu können.

Und genau auf diese Vernetzung wird es auch in Zukunft ankommen – wie man sie gestaltet, nutzt und ausbaut. Die Künstler*innen erheben ihre Stimme, lassen ihre Kultur aufleben und geben Hoffnung. Dadurch entsteht hoffentlich eine Widerstandsbewegung gegen die schreckliche Ideologie, die gerade in Afghanistan herrscht und gegen die aufkeimende Vergesslichkeit der Welt gegenüber Afghanistan.

Eine politische und gesellschaftliche Unterstützung werden die afghanischen Künstler*innen noch lange brauchen.


Dieses Interview wurde schriftlich geführt. Die Fragen stellte Julia Holz, Mitarbeiterin des Projekts Goethe-Institut im Exil.
 
 

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