„Der lachende Vagabund“ (1957) in der Darbietung von Fred Bertelmann ist einer der größten Verkaufsschlager der deutschen Musikindustrie. Innerhalb kurzer Zeit wurden von der Single zwei Millionen Exemplare allein in Deutschland verkauft, insgesamt liegt die Zahl bei 3,5 Millionen. Zum Vergleich: „She Loves You“ ist mit rund 1,9 Millionen verkauften Einheiten die erfolgreichste Single der Beatles im Vereinigten Königreich.
Tonspuren
Der Musikjournalist Mario Lasar wirft mit acht deutschsprachigen Songs aus acht Jahrzehnten einige Schlaglichter auf wichtige kulturelle und soziale Phänomene der (bundes-)deutschen Nachkriegsgeschichte.
Die meisten Songs und Künstler*innen, die in dieser Serie erwähnt werden, können (in der Reihenfolge ihrer Erwähnung) in einer Spotify-Playlist nachgehört werden: open.spotify.com/playlist/soundtracksBRD/Im Nachgang der Befreiung durch die Alliierten prägte vor allem die anglo-amerikanische Kultur den (west)deutschen Geist der Nachkriegszeit. Der ehemalige GI Gus Backus ist hier als Beispiel zu nennen, der mit dem absurden Da sprach der alte Häuptling der Indianer einen Hit landete. Aber auch der Brite Chris Howland, der unter dem Alias Mister Pumpernickel als Radio-Discjockey Karriere machte. Diese Interpreten passten sich insofern den Kriegsverlierern an, als sie deutsch sangen beziehungsweise sprachen. Ihr deutlicher Akzent mag den Reiz des Exotischen nur erhöht haben.
Fred Bertelmann konnte nicht mit einem fremdartigen Akzent aufwarten. Das Lied Der lachende Vagabund bezog seinen Exotismus daraus, dass es auf einen amerikanischen Countrysong referiert. So verleibte sich das Stück den Geist der Freiheit ein, der vor allem in den 1950ern mit den USA assoziiert war. Vom rebellischen Gestus des Rock’n’Roll ist Countrymusik jedoch weit entfernt. Nur nicht übertreiben mit der Freiheit! Auch das mag den Erfolg des lachenden Vagabunden in Deutschland erklären – einem Land, das zwar den Kontakt zum „Anderen“ sucht, aber nicht auf Kosten der neu gewonnenen Stabilität.
Das Prinzip eines gemäßigten Exotismus zeigt sich in Der lachende Vagabund erst recht, wenn man den Text mit einbezieht. Der Protagonist besucht fremde Länder. Er lässt sich treiben, ist frei – und weicht damit in extremem Maße ab vom Klischee des disziplinierten, zielgerichteten Deutschen.
Gleichzeitig parallelisiert der Text die in den 50ern aufkommende deutsche Lust am Tourismus. Während dieser (auch in der Wirklichkeit des Wirtschaftswunders) abhängig ist vom Kontostand, wird Reiselust vom Liedtext in hohem Maße idealisiert: der Vagabund schlägt sich ohne Geld durch. Und trotzdem: „Meine Welt ist bunt.“ Sieht man heute deutsche Farbfilme aus den 50ern, wirkt (oder ist) die Farbe oft nachkoloriert und künstlich. Die bunte Welt des Vagabunden entspricht einer Fiktion, die er entwirft, um seine Existenz zu rechtfertigen.
Und doch sind diese Fiktionen das, woran man die Nachkriegszeit erkennt, gerade weil sie so grell leuchten. Die Neigung zur großen Geste, zur Übertreibung bei gleichzeitiger Wahrung der Form / Norm markiert die Leitlinie der deutschen Popkultur in den 50ern. Wenn der Refrain in Der lachende Vagabund aus markerschütterndem Lachen besteht, mutet dies zunächst wie eine Grenzverletzung der Schlagerform an. Tatsächlich lässt sich das Lachen gleichsam als Einladung verstehen. Lachen als Affirmation, Herstellung von Vertrauen und Sympathie. Das Lachen sagt: Die Deutschen haben sich zum Besseren gewandelt.
Ich erinnere mich, dass ich als Kind das Lachen des Vagabunden unheimlich fand. Lacht so nicht ein Psychopath kurz bevor er dem nächsten Opfer die Kehle durchschneidet? Vielleicht ist der lachende Vagabund kein freundlicher Zeitgenosse.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wurde das Lachen des Vagabunden wohl eher als Ausdruck unschuldiger, ungetrübter Freude rezipiert. Wenn man davon ausgeht, dass es bei Popkultur immer auch um Identifikation geht, drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass sich Millionen Deutsche eben so sehen wollten, als sie den Song zum Hit machten: als unschuldig und dem Fremden gegenüber aufgeschlossen. In Der lachende Vagabund vollzieht sich damit eine nationale Projektion des „Abschied[s] von gestern“ (Alexander Kluge).
Tonspuren
- 1950er: Nur nicht übertreiben mit der Freiheit! (Fred Bertelmann – „Der lachende Vagabund“)
- 1960er: Poetisches Sittengemälde der Klassengesellschaft (Franz Josef Degenhardt – „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“)
- 1970er: Eine seltene Allianz von grüner Politik und Schlager (Udo Jürgens – „Tausend Jahre sind ein Tag“)
- 1980er: Beton und Neonlicht (Joachim Witt – „Der Goldene Reiter“)
- 1990er: Von neuen Möglichkeiten (Blumfeld – „Tausend Tränen Tief“)
- 2000er: Wenn Waren wertvoller sind als Menschen (Die Goldenen Zitronen – „Wenn ich ein Turnschuh wär“)
- 2010er: Großes Kino? (Helene Fischer – „Atemlos durch die Nacht“)
- 2020er: Ein neues Machtgefüge der Geschlechterrollen (Christin Nichols – „Bodycount“)
Mai 2024