Nach dem Ende der Neuen Deutschen Welle NDW war das Interesse an deutschsprachigen Bands, die sich vage einem „Indie“-Begriff verpflichtet fühlen, längere Zeit eher gering. Dies änderte sich erst Anfang der 1990er Jahre wieder mit der sogenannten Hamburger Schule, zu der auch die Band Blumfeld gerechnet wird.
Tonspuren
Der Musikjournalist Mario Lasar wirft mit acht deutschsprachigen Songs aus acht Jahrzehnten einige Schlaglichter auf wichtige kulturelle und soziale Phänomene der (bundes-)deutschen Nachkriegsgeschichte.
Die meisten Songs und Künstler*innen, die in dieser Serie erwähnt werden, können (in der Reihenfolge ihrer Erwähnung) in einer Spotify-Playlist nachgehört werden: open.spotify.com/playlist/soundtracksBRD/Obwohl sich Kolossale Jugend bereits 1991 wieder auflösten, gilt die Band als Vorreiter der „Schule“. Mit ihrer 1989 erschienenen LP Heile Heile Boches flammte wieder das Bedürfnis nach deutschsprachigem Indierock auf, der in einer breiter angelegten Szene aufgehen könnte. In dieses Klima hinein veröffentlichten Blumfeld im Herbst 1991 die Single Ghettowelt, deren lyrics zu grauen Gitarrenschraffuren die These formulierten, dass Musik als Mauer fungieren könne, mit der man sich vor der Außenwelt schützt.
Auf ihren ersten beiden LPs Ich-Maschine und L’Etat Et Moi setzten Blumfeld ihren Ansatz, (selbst-)reflexive Texte mit spröde-energischem Indierock zu kombinieren, weitgehend fort. Das Album Old Nobody von 1999 markierte dann einen Einschnitt, der der althergebrachten Ausrichtung der Band neue Impulse hinzufügte, die sich vor allem in dem auch als Single veröffentlichten Tausend Tränen Tief offenbaren. Das Stück basiert nicht auf elektrischen, sondern akustischen Gitarren sowie flächigen, sphärischen Synthesizerklängen. Das elegische Tempo weist den Song als Ballade aus. Außerdem nimmt Frontmann Jochen Distelmeyer Abstand von seinem unrunden, deklamatorischen Vortragsstil, um sich ganz offensiv als Sänger à la George Michael zu präsentieren.
Der Umstand, dass Blumfeld ihre alte Identität aufweichen, zeigt an, in welch hohem Maß die Band dazu bereit war, ästhetische Grenzen zu destabilisieren. Diese Offenheit setzt sich im Text fort. Indem die Zeile „Es könnte viel bedeuten“ auf das Lied selbst referiert, wird seine prinzipielle Interpretierbarkeit angezeigt. Analog zur Moderne weicht Tausend Tränen Tief ab von der Idee, Sprache könne eins zu eins Wirklichkeit abbilden. Das Lied „singt für dich allein von neuen Möglichkeiten“, lässt uns der Sprecher wissen. Die Betonung des „Möglichkeitssinns“ (Robert Musil) kann in Hinblick auf das Erscheinungsdatum von Tausend Tränen Tief im Zusammenhang gesehen werden mit einem in der Schwebe gehaltenen Ausblick auf das sich ankündigende neue Jahrtausend.
Die Verwendung von Begriffen wie „schweben“ und „fließen“ in den lyrics suggeriert, dass das neue Jahrtausend nicht als Bruch wahrgenommen wird, sondern als Scharnier, das das Alte mit dem Neuen verbindet. „So wie du ein Teil von mir / bin ich ein Teil von dir“ heißt es im Text, und auch wenn damit eher zwei Liebende gemeint sind, scheint die Lesart angelegt, dass die Zeilen eine Kontaktzone zwischen zwei Zeitabschnitten beschreiben. Indem das Stück gleitende Übergänge akzentuiert, verhält es sich konträr zu Princeʼ Partyhymne 1999, die den Fokus auf eine mit viel Pomp und Brimborium instrumentierte Zäsur legt. Während Prince die Stimmung des Übergangs zum Zeitpunkt der Entstehung seines Songs in den frühen 80er Jahren nur als Zukunftsprojektion entwerfen konnte, schildert das Blumfeld-Stück seine Eindrücke zeitsynchron aus dem Inneren des Jahres 1999, und da herrscht eine anti-hysterische, abwartende Ruhe – ein angenehmer Kontrast zur permanenten Panikmache rund um den Begriff „Millenium Bug“, der 1999 das Zeitgeschehen prägte.
Tonspuren
- 1950er: Nur nicht übertreiben mit der Freiheit! (Fred Bertelmann – „Der lachende Vagabund“)
- 1960er: Poetisches Sittengemälde der Klassengesellschaft (Franz Josef Degenhardt – „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“)
- 1970er: Eine seltene Allianz von grüner Politik und Schlager (Udo Jürgens – „Tausend Jahre sind ein Tag“)
- 1980er: Beton und Neonlicht (Joachim Witt – „Der Goldene Reiter“)
- 1990er: Von neuen Möglichkeiten (Blumfeld – „Tausend Tränen Tief“)
- 2000er: Wenn Waren wertvoller sind als Menschen (Die Goldenen Zitronen – „Wenn ich ein Turnschuh wär“)
- 2010er: Großes Kino? (Helene Fischer – „Atemlos durch die Nacht“)
- 2020er: Ein neues Machtgefüge der Geschlechterrollen (Christin Nichols – „Bodycount“)
Mai 2024