„Wenn ich ein Turnschuh wär“ von den Goldenen Zitronen aus dem Jahr 2005 nimmt die massiven Migrationsbewegungen des Jahres 2015, die als sogenannte Flüchtlingskrise bekannt wurden, um ganze zehn Jahre vorweg.
Tonspuren
Der Musikjournalist Mario Lasar wirft mit acht deutschsprachigen Songs aus acht Jahrzehnten einige Schlaglichter auf wichtige kulturelle und soziale Phänomene der (bundes-)deutschen Nachkriegsgeschichte.
Die meisten Songs und Künstler*innen, die in dieser Serie erwähnt werden, können (in der Reihenfolge ihrer Erwähnung) in einer Spotify-Playlist nachgehört werden: open.spotify.com/playlist/soundtracksBRD/Wenn ich ein Turnschuh wär basiert musikalisch auf einem schleppenden, aber präzisen Beat, der ergänzt wird durch einen changierenden, instabilen Sequencerlauf. Das Arrangement erinnert in seiner minimalen Ausrichtung an Ich und die Wirklichkeit der NDW-Band Deutsch Amerikanische Freundschaft beziehungsweise DAF. Beide Stücke formulieren einen krisenhaften Zustand. In einem gezierten, dezidiert fremdartigen Gesangsstil spiegelt sich das Entfremdungsmoment wider, von dem die Subjekte im Song beherrscht werden.
Ja, für eine Fahrt an’s Mittelmeer, Mittelmeer, Mittelmeer
Gäb’ ich meine letzten Mittel her, Mittel her, Mittel her
Und es zieht mich weil ich dringend muss, dringend muss, dringend muss
Immer über den Bosporus, Bosporus, Bosporus
Gäb’ ich meine letzten Mittel her, Mittel her, Mittel her
Und es zieht mich weil ich dringend muss, dringend muss, dringend muss
Immer über den Bosporus, Bosporus, Bosporus
Vor allem das Zitronenstück lebt davon, dass der Gesang in abrupter, überspitzter Manier die Register wechselt, was auf eine rollenspielartige Qualität hinweist. Trotz der ersten Person Singular installiert der Song dadurch eine produktive Distanz zu seinem Gegenstand. Der Blick auf das skizzierte Szenario ist somit eher nüchtern und nicht von passiver Rührseligkeit getrübt.
Konkret entwirft das Stück eine Situation, in deren Rahmen die Privilegien thematisiert werden, die Waren in Relation zu Menschen genießen, wenn es darum geht, Grenzen zu passieren:
Über euer scheiß Mittelmeer
käm ich, wenn ich ein Turnschuh wärʼ
oder auch als Flachbildscheiß
ich hätte wenigstens einen Preis.
Wenn ich ein Turnschuh wär ist auch unter einem anderen Aspekt ein wichtiges Stück: Es stellt einen impliziten Zusammenhang her zwischen außerhalb von Europa durch Ausbeutung billig produzierten Waren und der zynischen Herabsetzung von nicht-europäischen Menschen.
Heute haben sich die Umstände insofern gewandelt, als auch Geflüchtete einen Wert haben, allerdings einen negativen. Sogenannte Drittländer wie die Türkei oder Jordanien lassen sich die Aufnahme von geflüchteten Menschen von der Europäischen Union teuer bezahlen. Der Politikwissenschaftler Gerasimos Tsourapas spricht hier von der „Kommodifizierung von Geflüchteten“ und meint damit die zunehmende Transformation von Geflüchteten in Waren, die zwischen der EU und dem globalen Süden ausgehandelten Marktgesetzen unterworfen sind. Menschenrechte werden dabei tendenziell ausgeblendet. Die Engführung von Geflüchteten und Ware, die im Song der Goldenen Zitronen noch grotesk überzeichnet erscheint, ist heute auf traurige Weise Wirklichkeit geworden.
Eine Bekannte aus Belgrad, die zum Studieren nach Deutschland kam, äußerte mir gegenüber einmal völliges Unverständnis darüber, dass die Goldenen Zitronen nicht den gleichen Status inne haben wie die Toten Hosen oder die Ärzte. Als sie das erste Mal auf die Band stieß, dachte sie, dass sie hierzulande zum allgemeinen Kulturgut gehören würden. Wer Wenn ich ein Turnschuh wär hört, versteht, was sie meint.
Tonspuren
- 1950er: Nur nicht übertreiben mit der Freiheit! (Fred Bertelmann – „Der lachende Vagabund“)
- 1960er: Poetisches Sittengemälde der Klassengesellschaft (Franz Josef Degenhardt – „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“)
- 1970er: Eine seltene Allianz von grüner Politik und Schlager (Udo Jürgens – „Tausend Jahre sind ein Tag“)
- 1980er: Beton und Neonlicht (Joachim Witt – „Der Goldene Reiter“)
- 1990er: Von neuen Möglichkeiten (Blumfeld – „Tausend Tränen Tief“)
- 2000er: Wenn Waren wertvoller sind als Menschen (Die Goldenen Zitronen – „Wenn ich ein Turnschuh wär“)
- 2010er: Großes Kino? (Helene Fischer – „Atemlos durch die Nacht“)
- 2020er: Ein neues Machtgefüge der Geschlechterrollen (Christin Nichols – „Bodycount“)
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um.
Mai 2024